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Freud und Leid beim Reisen

Die Reisebriefe des Begründers der Psychoanalyse liegen jetzt als Buch vor. „Eine glühende Sehnsucht“ trieb Freud in die Welt hinaus

Mit der Anrede „Mein theurer Schatz“ beginnen Freuds Zeilen aus der Ferne an seine Frau Martha. Während sie in Wien oder in der Sommerfrische weilte, reiste er wochenlang in den Süden zu den Stätten der Antike, schickte Kartengrüße aus Rom, Piräus und Pompeji. Fast täglich schrieb er nach Hause, oft als Postkartenserie mit einem fortlaufendem Text, an seine sechs Kinder adressiert.

Die 245 erstmals veröffentlichten Dokumente belegen Freuds „glühende Sehnsucht, zu reisen und die Welt zu sehen“, seine Leidenschaft für die Altertumswissenschaft: Über zwanzigmal besuchte er Griechenland und Italien. Seine Reisetexte sind sinnlich, deskriptiv und pointiert. San Gimignano nennt er eine „meschugge auf einem Berg gelegene Stadt mit 13 Thürmen, 2 Kirchen, herrliche Fresken, schlechtem Wirtshaus“. Über die Bewohner Neapels schimpft er: „Die Menschen aber sind hässlich, oft ekelhaft, schauen aus wie die Galeerensträflinge.“ Und am zweiten Tag in New York schreibt er über Afroamerikaner: „Wir sind an alle Farbstufen vom Kohlschwarzen zum Chokoladenfarbigen durch alle Schattierungen des Cafés hindurch usw. schon gewöhnt.“

Bei der Lektüre lernen wir einen anderen Sigmund Freud kennen: als Privatier in den Ferien, im Eisenbahncoupé oder im Speisesaal eines Ozeandampfers sitzend, als Beobachter des Nebentischs: „einige sehr nette Leute, darunter ein junger akademischer Windbeutel aus Straßburg“; der Analytiker als Tourist, der unter sizilianischer Sommerhitze leidet, als Gast im Grandhotel mit griffbereitem Reiseführer auf dem Nachttisch und als mitteilsamer Genießer: „Es geht uns großartig, ich glaube, der Wein thut viel dabei.“

Selten war Sigmund Freud allein unterwegs, meist wurde er von seinem jüngeren Bruder Alexander begleitet, dem Herausgeber des „Eisenbahn-Stationsverzeichnisses von Österreich-Ungarn“, von seiner Schwägerin Minna, später von seinen Kindern Oliver oder Anna.

Einen großen Raum nimmt die Korrespondenz mit der Familie ein. Er reiste in einem dichten Netz von Bezügen. Stets kabelte er an Martha die Adresse seiner nächsten Unterkunft voraus. Freund war süchtig nach Post. Während seiner Amerikareise 1909 konstatiert er mitten auf dem Atlantik eine Schreibhemmung: „Man ist vom Schreiben abgeschreckt durch die Gewißheit, dass man nichts Geschriebenes zu erwarten hat. Die Abgeschiedenheit auf dem Ozean ist höchst merkwürdig und hat tiefe Wirkungen.“

Die vorliegenden Ausgabe verzichtet auf Mitteilungen Freuds von seinen Kongressreisen und Kuraufenthalten, die Auswahl beschränkt sich auf Freuds private Reisen zwischen 1895 und 1923. Die Briefe und Karten sind chronologisch nach den Sommerreisen strukturiert. Die einzelnen Kapitel werden vom Herausgeber Christfried Tögel eingeleitet, in den biografischen Kontext eingeordnet und abgekürzte Personennamen in Fußnoten erläutert. Nicht nur die umfangreiche Einführung, das Korrespondenzverzeichnis und das Register sind vorbildlich, durch die 152 Abbildungen – meist handelt es sich um die Wiedergabe alter Fotos und Ansichtskarten – wird das Buch auch zu einem bibliophilen Genuss.

Als kleiner Schatz gilt der Abdruck eines unbekannten Freud-Textes: seine Charaktertypologie „Bemerkungen über Gesichter und Männer in der Londoner National Portrait Gallery.“ Im fortgeschritten Alter unterschreibt Freund seine Grüße aus der Fremde mit den Floskeln „Dein Sigm“ oder „Euer alter Papa“.

Das einzigartige Buch „Unser Herz zeigt nach dem Süden“ steckt voll von Entdeckungen, verdichteten Passagen über Land und Leute und intimen Anspielungen des Ehemanns. So schreibt Sigmund an Martha Freud aus Florenz: „Man schwimmt in Kunst u wird hochmüthig, etwas blasiert. Gestern war ein fürchterlicher Dursttag. Heute Nachmittag Boboligärten u eine Wagenfahrt. Im ganzen eine herrliche Hetze, aber nichts für eine Dame, wenn sie nicht auf Hochzeitsreise u ohnedies elend ist. Die Abende sind lang, der Mond fehlt sehr, die Sterne sind meist im Baedeker. Herzl Gruß S.“ TILL BARTELS

Sigmund Freud: „Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895–1923“. Hrsg. von Christfried Tögel. Aufbau-Verlag, Berlin 2002, 422 Seiten, 25 €ĽISBN 3-351-02944-6,

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