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„Er schien so unauffällig“

Justizsenator Roger Kusch besucht mit SchülerInnen den Engel-Prozess. Die sind irritiert, wie wenig furchterregend heute der Mann ist, der 1944 italienische Partisanen hinrichten ließ

von Elke Spanner

Guiseppe Nicoletti, alias Nico. Geboren 1912, zwischen 1943 und 1945 im Sicherheitsdienst (SD) der SS. Zusammen mit Friedrich Engel, der heute vor dem Hamburger Landgericht angeklagt ist, als SS-Sturmbannführer 1944 bei Genua den Befehl zur Hinrichtung von 60 italienischen Partisanen gegeben zu haben. Mord, lautet die Anklage. „Nico“, der Belastungszeuge, kann sich dazu nicht mehr äußern. Er ist tot. Das Gericht verliest deshalb eine Aussage des Mannes, die er in den 60er Jahren in Italien zu Protokoll gegeben hatte.

Rund 20 SchülerInnen sitzen hinter der Trennscheibe im Staatsschutzsaal und sind irritiert. Mädchen und Jungen des Gymnasiums Billstedt, 12.Klasse, Gemeinschaftskundekurs. Statt zum Unterrricht sind sie mit ihrem Lehrer und Justizsenator Roger Kusch (CDU) zum Engel-Prozess gekommen.

Doch auch der Gerichtstag heute ist wie eine Unterrichtsstunde. Es werden keine Zeugen vernommen. Keine wortgewaltigen Plädoyers, kein Kreuzverhör, wie man es aus Spielfilmen kennt. Einer der letzten Nazi-Kriegsverbrecherprozesse erschöpft sich an diesem Tag im Verlesen von Aktenmaterial. Der Richter erzählt aus dem Leben von „Nico“. Er liest seine Biographie wie den Auszug aus einem Roman, nur dass die Handlung eine authentische ist. Engel selber spielt an diesem Tag kaum eine Rolle. Nur einmal fällt sein Name, und nur wenn man den Blick durch den großen Saal vor der Scheibe schweifen lässt, sieht man den weißhaarigen Mann links am Rand sitzen, ausdruckslos.

Die SchülerInnen erfahren dadurch wohl, dass man bei Gericht manchmal die Lebensgeschichte einzelner ZeugInnen erfragen muss, um deren Glaubwürdigkeit einzuschätzen. Und dass es in diesem Fall nicht ausreichen würde, AugenzeugInnen zu fragen, ob sie den Angeklagten Engel damals am Tatort beobachtet haben. Dass das Gericht vielmehr die Befehlsstruktur der SS nachvollziehen muss, um über 50 Jahre später feststellen zu können, welche Rolle genau Engel bei den Hinrichtungen spielte. Die Kernfrage des Prozesses ist, ob er aus eigener Motivation oder auf Befehl hin die Kriegsgefangenen erschießen ließ.

Die Erwartungen der SchülerInnen werden dennoch etwas enttäuscht. Nach einer halben Stunde lässt die Konzentration merklich nach. Vielleicht auch die Ehrfurcht vor dem Gericht, die zu Beginn noch zum absoluten Stillsitzen und Schweigen zwang. Die Mädchen zupfen sich verstohlen die Haare zurecht, die Jungs fangen an, Faxen zu machen. Auch Senator Kusch und sein Sprecher Kai Nitschke beginnen, unruhig zu tuscheln. Er habe ja gehofft, dass es noch ein wenig um die Erschießungen geht, raunt Nitschke dem Senator zu. Der atmet hörbar auf, als der Richter zumindest noch kurz zu dem Thema kommt.

Für kurze Zeit lebt die Szene im Gerichtssaal wieder auf. Der Richter verliest, dass die Hinrichtung „in folgender Weise“ geschah: Dass jüdische Gefangene schon Tage vorher einen tiefen Graben für die Leichen ausheben mussten. Dass die Gefangenen zu sechst darüber auf Brettern standen, als sie erschossen wurden. Dass die Nachfolgenden dem „makabren Schauspiel zusehen mussten“ und sich die Henker anschliessend belegte Brötchen bringen ließen.

Dadurch plötzlich nimmt die Geschichte Gestalt an für die SchülerInnen. Sie hören, welche Grausamkeiten die Faschisten damals begangen haben. Was der „Schlächter von Genua“, wie Engel genannt wird, damals tat. Und sie sehen den heute 93-Jährigen, hager, weißes Haar. Der 18-jährige Pawelec wird den Zwiespalt, in den die Situation die Schüler stürzt, später so ausdrücken: „Eigentlich müsste man Wut empfinden. Aber als ich diesen sehr labilen Mann ansah, hat er mir auch leid getan.“

Es ist die Frage, die die Mädchen und Jungen am meisten beschäftigt. Wie die Person, die ihnen nun für kurze Zeit gegenübersaß, vor 60 Jahren so etwas getan haben kann. „Ich kann mir das kaum vorstellen, jetzt wo er so alt ist“, sagt Aaquela, und auch Nilüfer ist irritiert darüber, wie das Bild des damaligen Täters in ihrem Kopf von dem abwich, das sich ihr heute im Gerichtssaal bot: „Engel schien so unauffällig. Nicht wie jemand, auf den man sonst geachtet hätte.“

Die Frage kommt auf, welchen Sinn der Prozess überhaupt noch haben soll. Engel ist alt, „er lebt sowieso nicht mehr lange“, wie Pawelec sagt. Auch Jennifer findet, dass man „das viele Geld, das der Prozess kostet, besser für etwas anderes ausgeben soll“. Michael aber weist seine MitschülerInnen darauf hin, dass das Verfahren auch „symbolischen Wert“ hat. Und Kusch ergänzt: „Mord verjährt nie.“

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