: Die neue Klassengesellschaft
Die SPD-Bildungspolitik ist gescheitert, da sie ihren eigenen Anspruch nicht erfüllte: mehr Chancengleichheit. Die Reformen müssen nun in der Lehrerausbildung beginnen
Die sozialen Unterschiede schwinden. Das zumindest behaupteten die Sozialwissenschaften lange Zeit. In den Fünfzigerjahren setzte sich der Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ durch; die marxistische Analyse, die die Stellung im Produktionsprozess ins Zentrum gerückt hatte, galt damals als hoffnungslos veraltet.
Die neueren Theorien kreisen um Begriffe wie „reflexive Modernisierung der Arbeitsgesellschaft“ und „Enttraditionalisierung“. Die Erwerbsbiografien und Lebensentwürfe hätten sich grundlegend gewandelt. Die Traditionen verschwinden – und die subjektiven Entscheidungen der Individuen, ihre Geschmacks- und Wertehaltungen werden immer wichtiger.
Ein genauerer Blick zeigt freilich anderes: Was man heutzutage „Enttraditionalisierung individueller Lebensläufe“ nennt, kann man auch beschreiben als Umstellung der alten Klassengesellschaft in die globalisierte Welt des digitalen Kapitalismus. Pierre Bourdieu hat genau dies in seiner Studie „Das Elend der Welt“ für Frankreich gezeigt: Armut und soziale Unsicherheit, die in der globalen Peripherie herrschen, sind inzwischen im Herzen der Metropolen angekommen.
An der Produktion und Reproduktion dieses Elends ist die Schule, das Bildungssystem, wesentlich beteiligt. „Die Schule“, so Bourdieu über das gegenwärtige französische Bildungswesen, „grenzt kontinuierlich auf allen Ebenen des Ausbildungsverlaufs aus. Und sie behält die, die sie ausgrenzt, in ihrem Inneren, indem sie sich begnügt, sie in mehr oder weniger entwertete Bildungsgänge abzuschieben.“
Nun liegt Frankreich in der Bewertungsskala der Pisa-Studie sogar sieben Positionen vor Deutschland. Und: Laut Pisa-Studie entspricht das deutsche Schulwesen exakt dem, was man traditionell als die Schule einer kapitalistischen Klassengesellschaft bezeichnet.
Der Studie zufolge unterliegt Bildung in Deutschland Prozessen sozialer Vererbung. Der soziale Ort, an dem dieser Vererbungsprozess stattfindet, ist die Grundschule – genauer das Ende des vierten Schuljahres, wenn die Entscheidung fällt, welche Kinder auf weiterführende Schulen gehen und welche nicht. Diese Wahl hängt von einer Fülle vermeintlich frei getroffener Entscheidungen ab, von Zensuren, Elternwünschen und Lehrerempfehlungen. Wir haben es also nicht mit offenen Verboten oder ständischen Schranken zu tun. Doch das Resultat ist laut Pisa ähnlich.
Eltern mit Hochschulreife erhoffen etwa zweieinhalbmal so oft wie Eltern mit Hauptschulabschluss für ihre Kinder das Abitur. Kinder unterer Sozialschichten erhalten bei gleicher Schulleistung seltener als solche aus privilegierten Häusern eine Gymnasialempfehlung, während es Eltern höherer sozialer Schichten häufiger gelingt, die Hauptschule auch bei schwacher Leistung ihrer Kinder zu vermeiden.
Die Bildungsentscheidungen werden deutlich früher gefällt als anderswo und sind im hiesigen Schulwesen nur schwer umkehrbar: Deutschland unterscheidet sich damit von den meisten anderen Staaten.
Die Pisa-Studie gipfelt in der deprimierenden Erkenntnis, dass in Deutschland 23 Prozent gar nicht oder nur schwach lesefähig sind. Ein dramatisches Ergebnis: Denn „Lesekompetenz“ ist laut Pisa nichts anderes als die im digitalen Kapitalismus unerlässliche Metafähigkeit, symbolisches Denken reflexiv und kreativ anzuwenden. Unter diesen 23 Prozent sind in der Tat viele jugendliche Immigranten – doch wer vor allem die Migration für das schlechte Abschneiden der Schüler in Deutschland verantwortlich macht, irrt. Denn auch wenn man den Immigrantenanteil herausrechnet – an der vergleichsweise schlechten Stellung Deutschlands im internationalen Vergleich ändert sich nichts.
Auch der Vergleich der Bundesländer, die so genannte Pisa-E-Studie, hellt das Bild nicht auf. Sie zeigt, dass die sozialdemokratische Schulpolitik nach mehr als 30 Jahren vor einem Scherbenhaufen steht. Die SPD zielte stets darauf, soziale Ungleichheit abzubauen. Die Pisa-E-Studie scheint genau das Gegenteil zu beweisen: Die buntscheckige, durch Gesamtschulen, Orientierungsstufen und zuletzt die autonomisierte Stadtteilschule gekennzeichnete sozialdemokratische Bildungslandschaft baut soziale Ungleichheit nicht ab, nein, sie verstärkt sie kumulativ. Dass sozialdemokratisch regierte Länder bei den Gymnasialleistungen besser dastehen, tröstet wenig. Es belegt nur einmal mehr, dass eine auf sozialen Ausgleich setzende Schulpolitik gescheitert ist.
Pisa und Pisa E legen nahe, dass die gewachsene Berücksichtigung des Elternwillens bei gleichzeitiger Auffächerung der Schulformen Kinder aus bürgerlichen Elternhäusern bevorteilt und Kinder aus den Unterschichten benachteiligt. Bleibt die Frage, welche Folgerungen sich aus den Pisa-Studien ergeben. Grund, sich um die Abiturienten zu kümmern, gibt es nicht – es sei denn, man betreibt Bildungspolitik vor allem als Standortpolitik im internationalen Wettbewerb. Dringlich sind nun vier auf der Hand liegende Reformen:
Erstens muss man das in der Behindertenförderung erprobte Modell hoch differenzierter pädagogischer Arbeit in der Grundschule allen Kindern als Regelangebot angedeihen lassen.
Zweitens: Das bedeutet für die Lehrerbildung, pädagogische Diagnostik nicht nur angehenden Sonderschullehrern, sondern allen Lehramtsstudierenden auf allen Schulstufen und -formen zu vermitteln. Jetzt zeigt sich: Die in manchen Ländern umgesetzte Überwertigkeit von Soziologie und Politologie in den Grundwissenschaften der Lehrerbildung zuungunsten der Psychologie war ein schwerer Fehler.
Drittens: Der Deutschunterricht, in dem Lesefähigkeit und Lesekompetenz ausgebildet werden, muss in allen Schulformen und Schulstufen ins Zentrum rücken. Denn auch bei ethnisch Deutschen kann bildungssprachliches Deutsch nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Auch das hat Folgen für die Lehrerbildung: Alle Lehramtsstudierenden müssen – wie früher – Sprecherziehung und Germanistik obligatorisch belegen.
Viertens: Vor allem sind Reformversuche in Richtung auf noch mehr Schulautonomie – sofern es um mehr als um Zusatzangebote im künstlerischen Bereich oder die Aufhebung des 45-Minuten-Takts geht – abzubrechen. Die von einer missverstandenen Reformpädagogik inspirierte Idee einer kommunalen Schulentwicklung, die schließlich in einem Wettbewerb der Eltern um die Schule gipfeln soll, darf auf keinen Fall weiterverfolgt werden. Denn wenn es richtig ist, dass die sozial Starken an einem schwachen Staat interessiert, die sozial Schwachen aber auf einen starken Staat angewiesen sind, dann ist die finanziell schwach budgetierte, wesentlich auf den Elternwillen im Stadtteil angewiesene, propagandistisch auch gern als „Haus des Lernens“ bezeichnete Schule nichts anderes als genau jenes bildungspolitische Modell, das die in der Pisa-Studie festgestellten Ungerechtigkeiten weiter verstärken und die Umsetzung des Neoliberalismus im Bildungswesen besiegeln wird. MICHA BRUMLIK
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