: Abschied vom Aufstieg
Die „Generation Golf“ ist in der Krise. Schon einmal hatte eine ganze Altersgruppe in Deutschland das Gefühl, überflüssig zu sein: der „Jahrgang 1902“, zu dem auch die Schriftsteller Ernst Glaeser und Ernst von Salomon gehörten. Ein Rückblick
von JAN BRANDT
„Wie geht es weiter mit uns, ist eine Frage, die uns nicht allzu sehr umtreibt“, schrieb Florian Illies in „Generation Golf“: „Solange wir mit Börsenkursen unser Leben planen können, solange leisten wir uns den Luxus, in der Gegenwart zu leben.“ Die anhaltende Talfahrt an den internationalen Aktienmärkten, die branchenübergreifenden Umsatzeinbußen und Kündigungen lassen ein Dasein im Hier und Jetzt nun aber viel weniger attraktiv erscheinen. Plötzlich fühlt sich das ganze Leben nicht mehr an „wie die träge Bewegungslosigkeit eines gutgepolsterten Sonntagnachmittags“, sondern eher wie ein trüber Montagmorgen auf dem Arbeitsamt.
Nach Jahren der Unbeschwertheit erlebt die „Generation Golf“ ihre erste große Krise. Bestens ausgebildete Dreißigjährige stehen auf der Straße und müssen erkennen, dass es Wichtigeres gibt als die Frage nach der richtigen Kleidung, der richtigen Musik und der richtigen, zeitgeistkonformen Biografie. Dabei haben sie sich nichts vorzuwerfen. Sie haben zügig studiert, Eliteuniversitäten im Ausland besucht und halbjährige, zum Teil unbezahlte Praktika vorzuweisen. Sie entsprechen genau dem Profil, das Unternehmen von ihren Mitarbeitern verlangen. Trotzdem sind sie, die Jüngsten, aus Gründen der Sozialverträglichkeit zuerst entlassen worden. Wo sich eben noch berufliche Senkrechtstarter in Szene setzten, macht nun das Schlagwort von der „überflüssigen Generation“ die Runde.
Als solche betrachtete sich aber schon die so genannte „Kriegsjugendgeneration“, deren Vertreter vor hundert Jahren geboren wurden und nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeit im Ausnahmezustand erlebten. Trotzdem wurden ihnen, als sie etwa 30 waren, Eigenschaften zugeschrieben, die durchaus an Florian Illies’ Charakterisierung der „Generation Golf“ erinnern: „Es gibt eine junge Generation in der Wirtschaft. Sie hat meist einige Jahre in Amerika gearbeitet und den amerikanischen Betrieb kennengelernt. Sie hat tadellose, einwandfreie Kenntnisse. Sie kann exzellent organisieren. Sie kennt die Kniffe der Bilanz. Sie ist gescheit, aktiv und tatendurstig.“
Was sich liest wie eine Beschreibung von Jungunternehmern mit Start-up-Lebenslauf, ist in Wahrheit ein über siebzig Jahre alter Text und stammt von dem Chefredakteur der rechtskonservativen Kulturzeitschrift Die Tat, Hans Zehrer. Unter dem Pseudonym Hans Thomas verfasste er 1929 zu Beginn der Weltwirtschaftskrise eine „Absage an den Jahrgang 1902“. Darin beschrieb er die Diskrepanz, die sich zwischen den Angehörigen der Frontgeneration, die wie Zehrer selbst den Ersten Weltkrieg hautnah miterlebt hatten, und den Nachgeborenen auftat. Während die Älteren – nach der unmittelbaren Kriegserfahrung skeptisch geworden – Positionen und Chancen abgelehnt hätten, würden die Jüngeren jede Stellung akzeptieren, die einen baldigen sozialen Aufstieg verspreche. „Es sind die selbstbewußten, großschnäuzigen Söhne aus guten oder immerhin gesicherten Ställen. Sie bevölkern die Vorzimmer der Schattengrößen, die wir ablehnen. Sie haben Verbindungen. Sie lunchen täglich mit irgendeinem, da ihre Zeit knapp ist und sie die Besprechungen rationell gestalten müssen.“
Als Schüler hatte sich Hans Zehrer, selbst Jahrgang 1899, freiwillig für den Krieg gemeldet und war an der Westfront verwundet worden. Die physische Erfahrung von Schmerz, Verstümmelung, Angst und Tod hatte ihm und anderen Frontsoldaten manche Illusion geraubt. Eine gesellschaftliche Wiedereingliederung im Frieden, ein Sich-Einrichten in der Bequemlichkeit satten bürgerlichen Lebens kam für diese Männer nicht in Frage. Kompromisse durften nicht gemacht werden. Schon allein deshalb musste sich jemand wie Zehrer vom Jahrgang 1902, dem ersten, der nicht mehr zum Kriegsdienst eingezogen worden war und der „durch ein kindlich geschriebenes Buch eine gewisse symptomatische Bedeutung gewonnen“ habe, lossagen.
Das Buch, auf das Zehrer anspielte, war der internationale Bestseller „Jahrgang 1902“ von Ernst Glaeser. 1928 erschienen, hatte sich der Roman bis zur Machtübernahme der Nazis 125.000-mal verkauft und war in 16 Sprachen übersetzt worden. Ernest Hemingway bezeichnete „Jahrgang 1902“ als „verteufelt gutes Buch“ und Thomas Mann bescheinigte dem Autor ein außerordentliches schriftstellerisches Talent.
Der Autor Glaeser, am 29. Juli 1902 als Sohn eines Amtsrichters im hessischen Butzbach geboren, beschrieb in dem Roman seine persönliche Kriegserfahrung. Nicht die heroischen „Stahlgewitter“ Ernst Jüngers oder der zermürbende Frontalltag wie in Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ waren für die Jugendlichen des Jahrgangs 1902 paradigmatisch, sondern die Auswirkungen des Krieges auf den Alltag in Deutschland: Abwesenheit der Väter und Lehrer, Siegesschulfeiern und Heeresberichte, vormilitärische Übungen und Kriegsspiele, vor allem aber Mangel an Nahrungsmitteln, Hunger, Not und Entbehrungen.
Wer für die Misere verantwortlich war, darüber bestand bei den Jungen kein Zweifel. „Der Krieg“, sagt jemand im „Jahrgang 1902“, „das sind unsere Eltern“, und bringt damit zum Ausdruck, was viele seiner Altersgenossen dachten, die davon überzeugt waren, als erste Generation gegenüber vorangegangenen „als ganze, große Schicht enterbt und ausgesetzt“ worden zu sein. Die nach dem Krieg einsetzende Rezession, die Inflation und die bürgerkriegsähnlichen Zustände schienen die Erwartungen, dass es mit einer demokratisch gewählten Regierung auch nicht besser werden würde, zu bestätigen. Zudem sahen sich Arbeiter, Angestellte und Akademiker – wie heute auch – mit einer außergewöhnlich hohen strukturellen und konjunkturellen Erwerbslosigkeit konfrontiert.
In diesem Klima allgemeiner Sinnsuche und Verwirrung begannen sich vor allem in konservativen Kreisen revolutionäre Ideen zu entfalten. Viele junge Männer waren nicht länger gewillt, die gesellschaftlichen Verhältnisse hinzunehmen, sondern wollten aktiv an ihrer Gestaltung mitwirken und die „Republik der Greise“ (Joseph Goebbels) durch die Herrschaft einer „jungen Generation“ ablösen.
Das einzige, was junge Linke und Rechte einte und die „Kriegsjugendgeneration“ des Jahrgangs 1902 mit den Frontsoldaten zu verbinden schien, war der „Kampf gegen die Alten“, die den Krieg verschuldet hatten und danach wieder wichtige Positionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft mit einer Selbstverständlichkeit besetzten, als ob nichts gewesen wäre. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Jüngeren dabei unterschiedliche Strategien verfolgten. Während Glaeser zielstrebig seine Karriere plante, Abitur machte, studierte und als Redakteur der Frankfurter Zeitung und des „Süddeutschen Rundfunks“ arbeitete, ging Ernst von Salomon, geboren am 25. September 1902, einen anderen Weg. Er wollte nicht in die Institutionen „hereingehen und den Kampf von innen führen“ – eine Einstellung, die Hans Zehrer bei seinen Altersgenossen festgestellt zu haben glaubte und die später in Rudi Dutschkes Forderung nach einem „Marsch durch die Institutionen“ wieder aufschien.
Stattdessen griff Ernst von Salomon selbst zu den Waffen, schloss sich den Freikorps an, beteiligte sich am Kapp-Putsch und wurde 1922 wegen Beihilfe an der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Entwicklung vom preußischen Kadetten zum militanten Gegner der Weimarer Republik verarbeitete er in dem 1930 erschienenen Roman „Die Geächteten“. Sich und seine Mitstreiter empfand er als Ausgestoßene, die sich in der gefügten bürgerlichen Welt nicht zurechtfanden. Aus dem Bewusstsein heraus, den Worten Taten folgen zu lassen, mussten die jungen Nationalrevolutionäre ihre Isolierung bis zur letzten Konsequenz treiben – um sich so selbst jeden Rückweg in die bürgerliche Existenz abzuschneiden.
Anders als Heinz Rühmann und Leni Riefenstahl, die ebenfalls 1902 geboren worden waren und im Dritten Reich Karriere machten, standen Ernst von Salomon und Ernst Glaeser dem Nationalsozialismus skeptisch gegenüber, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Von Salomon hatte sich immer positiven politischen Zielen verweigert. Er verstand sich als Vertreter einer Denkfigur, die ihre Stärke aus der Ablehnung jeglicher Halbheit gewinnt. Und als sich seine Forderung nach Beseitigung von Liberalismus und Demokratie in der Herrschaft der Nationalsozialisten zu verwirklichen schien, wandte er sich wie viele Rechtsintellektuelle vom Regime ab, weil er sich um seine Utopien von einem nationalen Aufbruch jenseits allen „Parteigeistes“ geprellt sah. Alle Sympathiebekundungen der Nazis ignorierte er, schrieb mittelmäßige Drehbücher für Unterhaltungs- und Propagandafilme und lebte mit seiner jüdischen Lebensgefährtin zusammen, ohne je im „Dritten Reich“ öffentlich in Erscheinung zu treten. Später lieferte er mit dem Entnazifizierungs-Roman „Der Fragebogen“ den ersten Bestseller der jungen BRD und starb am 9. August 1972.
Der „Fall Glaeser“ liegt anders. Er galt den Nazis als „marxistischer Kollektiv-Literat“, weil er als Mitglied des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ einen Wahlaufruf zugunsten der KPD unterschrieben hatte. Im Mai 1933 wurden Glaesers Bücher verbrannt, ein Jahr später emigrierte er zunächst nach Prag, dann in die Schweiz und kehrte aus Heimweh im Mai 1938 überraschend nach Deutschland zurück. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Glaeser als Hauptschriftleiter der Wehrmachtsfrontzeitung „Adler im Süden“, und Exilliteraten beschimpften ihn fortan als „Deserteur“, „Völkerverräter“ und „Anschmeißer“.
Später versuchte Glaeser vergeblich, seine Entscheidung zu rechtfertigen und starb am 8. Februar 1963 in Mainz. Wenige Jahre später wurden diejenigen Menschen geboren, die wir heute unter dem Begriff „Generation Golf“ zusammenfassen.
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