: Ein Geschichtszeichen
Opfer des südafrikanischen Apartheidregimes drohen deutschen und Schweizer Großbanken mit Sammelklagen. Das bietet die Chance, Unrecht künftig zu verhindern
Der amerikanische Rechtsanwalt Ed Fagan droht zwei Schweizer und mehreren deutschen Großbanken, die bis 1985 stark im Südafrikageschäft engagiert waren, mit Sammelklagen für die Entschädigung der Opfer des Apartheidregimes. Geklagt wird in New York, weil solche Klagen anderswo ziemlich aussichtslos sind.
Das Vorhaben birgt juristische, ökonomische und politisch-moralische Fragen. Die juristischen und ökonomischen liegen auf der Hand: Welches Gericht ist auf welcher Rechtsgrundlage zuständig? Wer ist Opfer? Wer ist klageberechtigt? Wer ist Täter? Wie werden welche Taten erfasst? Wie sehen die von den Banken verursachten Schäden aus? Wie werden sie finanziell beziffert? Diese Fragen sind wichtig, sollen jedoch hier nicht behandelt werden.
Auch die Integrität und Vertrauenswürdigkeit des amerikanischen Staranwalts und seiner einschlägig bekannten Kollegen in München und Zürich stehen hier nicht zur Debatte. Alle diese Opferanwälte drapieren sich gerne mit dem glänzenden Glorienschein von humanitären Wohltätern, die für die Ansprüche der Opfer kämpfen. Tatsächlich sind Sammelklagen weltweit längst auch zu einem lukrativen Business geworden, an dem Anwälte mit geringem eigenem Risiko Millionen verdienen. Interessant an der Drohung mit den Sammelklagen ist aber vor allem der politisch-moralische Aspekt.
Selbst wenn die Anwälte nur aus borniertem Egoismus handelten und die Klagen juristisch haltlos und ökonomisch unsinnig wären, behielte schon die Drohung mit Sammelklagen ein unbestreitbares doppeltes Verdienst. Die Diskussion über die Klage ruft nämlich den weitgehend vergessenen Skandal in Erinnerung, dass die „freie Welt“, wie es damals hieß, im Zeichen des Kalten Krieges gegen den Kommunismus ein offen rassistisches Regime nicht nur nicht bekämpfte, sondern duldete und unterstützte. Den Opfern dieses Regimes ist heute juristisch und materiell nur noch unzulänglich zu helfen. Aber man kann sie wenigstens in Erinnerung behalten und sie zusammen mit dem Skandal selbst dem Vergessen entreißen.
Die Politik des südafrikanischen Apartheidregimes, im euphemistischen offiziellen Jargon „getrennte Entwicklung“ genannt, war nach den völkerrechtlichen Standards der UNO-Charta von 1948 eindeutig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. Doch erst 1973 ächtete eine internationale Konvention die Apartheidpolitik als Verbrechen. Dieser Konvention folgten 1977 ein Waffenembargo sowie die Empfehlung eines Ölembargos im Namen der Vereinten Nationen. An eine strikte Anwendung und Überwachung der Embargos sowie an eine scharfe Sanktionierung von Verstößen dachte freilich niemand ernsthaft. Die Embargos wurden umgangen und die vermeintlich „normalen Geschäfte“ – mit Gold, Edelsteinen, Staatskrediten, Industrieanlagen, Autos und Rohstoffen – gingen weiter unter dem Schein, legal und dadurch „sauber“ zu sein.
In Europa engagierten sich nur wenige kirchliche und linke Gruppierungen für eine solidarische Entwicklungspolitik in Afrika und protestierten öffentlich gegen die „sauberen“ Geschäfte mit dem rassistischen Regime. Selbst die Ausrüstung der brutalen Polizeikräfte mit schweizerischen Erzeugnissen wurde damit gerechtfertigt, es handle sich um zivile und nicht um militärische Güter. Eines der wenigen zählbaren Ergebnisse dieses Protests war, dass in linken Wohngemeinschaften die weltbeste Marmelade aus Bitterorangen boykottiert wurde, weil sie aus Südafrika stammte.
In dem Maße, wie jetzt im Windschatten der Debatte über die Sammelklagen die „sauberen“ Geschäfte mit dem rassistischen Regime an die Öffentlichkeit kommen, in dem Ausmaß werden auch der moralisch-politische Skandal und die darin verstrickten Branchen und Firmen sichtbar. Diese Verstrickung begründet wahrscheinlich keine juristische Schuld, denn es war alles legal – wohl aber moralisch-politische Verantwortung. Und dieser kann die Öffentlichkeit der westlichen Industriestaaten gerecht werden, indem sie die Opfer in Erinnerung behält und sich für die Entwicklungschancen des Landes engagiert. Damit das alles in Gang kommt, sollte eine gemischte Untersuchungskommission eingesetzt werden, die den Skandal so akribisch und in allen Facetten dokumentiert, wie dies die Bergier-Kommission für die schweizerische Flüchtlings- und Wirtschaftspolitik zwischen 1933 und 1945 vorgemacht hat: 25 Einzelstudien von über 10.000 Seiten Gesamtumfang beleuchten die Praktiken in der Vergangenheit zwar spät, aber akribisch.
Bezieht sich das erste Verdienst der Drohung mit der Sammelklage auf die Vergangenheit, so das zweite auf die Zukunft. Mit der Dokumentation der „sauberen“ Praktiken im Südafrikageschäft und mit der Übernahme der politisch-moralischen Verantwortung würden die schweizerische wie die deutsche Wirtschaft und Politik ein Zeichen setzen, an dem sich zukünftiges wirtschaftliches Denken und Handeln orientieren müsste. Mit einem Land, in dem menschen- und völkerrechtliche Normen systematisch verletzt werden, darf es keine „sauberen“ Geschäfte geben – und sei es allein aus dem Grund, dass man dafür später zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs, vor dem Politiker und Militärs, die Menschen- und Völkerrechte verletzten, angeklagt werden können, erhöht das Risiko für die potenziellen Täter und schützt mögliche Opfer. Kurz – das allgemeine Berufsrisiko für Diktatoren und Generäle steigt mit der Einrichtung des Gerichts in Den Haag. Die Diskussion und Dokumentation der „sauberen“ Geschäfte im Zuge der Debatte über die Sammelklagen könnte auf Manager, Banker und Geschäftsleute eine ähnliche präventive Wirkung haben. Erinnerung, Dokumentation und Debatte würden so – noch vor materiellen Entschädigungsleistungen – zum „Geschichtszeichen“.
Kant meinte damit das mehr oder weniger spontane Hervortreten der „Denkungsart der Zuschauer“, die sich bei „großen Umwandlungen öffentlich verrät“. In der „uneigennützigen Teilnehmung“ von Menschen außerhalb Frankreichs an der Französischen Revolution entdeckte Kant eine Orientierung am „Menschengeschlecht im Ganzen“ und damit einen universellen „moralischen Charakter“. Der beweise – „wenigstens in der Anlage“, wie Kant vorsichtig hinzufügt –, dass „das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen lässt, sondern selbst schon ein solches ist“. Das primär interessengeleitete Unternehmen Fagans könnte – unbeabsichtigt und durch die Hintertür – die Chancen für eine neue Denkungsart der zuschauenden Citoyens und für ein anderes Handeln von Wirtschaft und Politik verbessern. Wenn in Europa eine seriöse historische Aufarbeitung und eine politische Debatte über die Südafrikageschäfte zustande käme, wäre das mit Kant als „Geschichtszeichen“ auf „etwas Moralisches im Grundsatze“ zu deuten. RUDOLF WALTHER
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