Mit Macht gestalten

PRO: Nur eine große Koalition kann die Republik wirklich reformieren

Viele Wähler von Rot-Grün sind von der Regierungskoalition enttäuscht. Zu sehr ähnelte sie den liberal-konservativen Vorgängern, zu wenig handelte sie nach den eigenen, progressiveren Parteiprogrammen. Zudem weigert sich Edmund Stoiber hartnäckig, als Feindbild aufzutreten. Zwar hat nach den aktuellen Umfragen Rot-Grün erstmals in diesem Jahr wieder eine Mehrheit. Doch ist fraglich, ob eine Neuauflage der Koalition wünschenswert ist. Für die Aufgaben der nächsten Regierung wäre eine große Koalition am besten geeignet.

Denn eine verfassungsändernde Mehrheit in Bundestag und Bundesrat ließe sich klug nutzen. Eine große Koalition müsste vor allem die Aufgaben von Bund und Ländern radikal entflechten. Die Lähmung der deutschen Politik ist zum großen Teil institutionenbedingt und weniger auf die geistige Trägheit der politischen Klasse zurückzuführen. Die Politikverflechtung schadet sowohl dem Bund als auch den Ländern. Über seine Vetorechte greift der Bundesrat massiv in Bundesangelegenheiten ein. Umgekehrt bürdet der Bund Ländern und Kommunen ständig neue Aufgaben auf, ohne ihnen eigene Finanzierungsrechte zu übertragen.

Zweitens hätte eine große Koalition die Chance, direktdemokratische Verfahren auf Bundesebene einzuführen. Auch dazu ist eine verfassungsändernde Mehrheit nötig. Bisher blockierte die Union, obwohl drei von vier Bürgern diese Option wünschen. Aber der Widerstand der Union bröckelt, und als Bestandteil eines Koalitionsvertrags könnte sie direktdemokratischen Verfahren ohne Gesichtsverlust zustimmen. Volksbegehren und Volksentscheide sind zwar nur Verfahren, offen für jede Fragestellung. Aber ihre Einführung dürfte mehr Bedeutung für eine nachhaltige Politikgestaltung der Zukunft eröffnen als etwa die Frage über den Bestand des Dosenpfands. Vor allem die Jüngeren sind weniger politik- denn wahlmüde. Für Kampagnen mit abgegrenzten Zielen engagieren sie sich.

Die dritte Aufgabe einer großen Koalition wäre die Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme, deren jetzige Finanzierung den Faktor Arbeit übermäßig belastet. Gleichzeitig entsteht ein ständiger Druck zur – mehrheitlich nicht gewünschten – Leistungskürzung. CDU und SPD könnten sich auf eine Steuerfinanzierung der Sozialversicherungssysteme einigen. Und wenn sie ganz mutig sind, integrieren sie auch noch Beamte und Selbstständige in die sozialstaatliche Absicherung.

Viertens schließlich kann eine große Koalition die Steuern auf Gewinne von Kapitalgesellschaften und auf Vermögen, einschließlich Immobilien, erhöhen. Zwar geben sich SPD wie Union im Wahlkampf als Steuersenkungsbewegungen. Aber beide Parteien stehen auch in Ländern und Gemeinden in der politischen Verantwortung. Dort spüren sie direkt den katastrophalen Tiefstand der öffentlichen Einnahmen. Und Bildung wie Arbeitsmarkt werden viel zusätzliches Geld brauchen. Nur eine große Koalition hätte die Kraft, nicht nur den einfachen Weg einer Erhöhung der Verbrauchssteuern zu gehen, sondern gegen den Widerstand der – gut organisierten – Betroffenen die jetzige Schieflage zu Lasten der kleinen und mittleren Einkommen etwas zu korrigieren. Dass Edmund Stoiber bereits Änderungsbedarf bei der Körperschaftssteuer signalisiert, sich aber noch zu schwach fühlt, diese auch fest anzukündigen, zeigt das Potenzial einer Verbindung der beiden Volksparteien.

Politisch lähmend wäre eine große Koalition nicht. Als Oppositionspartei dürften die Grünen die Abwahl als zweite Chance begreifen und reflektieren, wie sie sich künftige Regierungsverantwortlichkeit vorstellen. Die Wahlen in den gestärkten Bundesländern wären wegen der neuen Möglichkeiten bedeutungsintensiver. Und wenn dann noch die ersten Volksbegehren auf Bundesebene anstehen, erwartete uns sogar eine recht anregende Legislaturperiode – einschließlich verbesserter Perspektiven auf die Politikmöglichkeiten danach. GERD GRÖZINGER