: „Bau mir ein Nest“
Erna Hirsch musste mit ihrem Mann aus Nazideutschland fliehen, weil er Jude war. In der Emigration, irgendwo zwischen Spanien und der Schweiz, ging ihre Liebe verloren. Das Protokoll einer furchtbaren Zeit
von KURT OESTERLE
Das Tonbandgerät läuft an. Erna Hirsch kommt ins Stottern. Kurz zuvor hat sie noch schwungvoll erzählt. Da stand das Band still, und die achtzigjährige Frau war noch keine Zeitzeugin, von der gültige Sätze erwartet werden. „Mein … ich … ja … was soll ich sagen?“ So fängt sie an, so bricht sie ab. Sie sucht einen Weg, der hineinführt in die Geschichte ihrer Emigration. Gäbe es einen Anfang!
Sie sagt, dass sie ein zartes und ängstliches Mädchen war, das nur bei angelehnter Tür einschlafen konnte und bis ins Konfirmandenalter am Sonntagmorgen ins Bett der Eltern kroch. Lange verharrt sie am Beginn ihrer Erzählung, sie will sich von den Lichtblicken der Kindheit nicht losreißen. Das Tonbandgerät zeichnet die Stille der Sprechpausen auf.
Über ihrem Sofa hängt das Bild eines Mädchens mit himmelblauem Hut. Es blickt verträumt über die Schulter und lächelt. Erna Hirsch hat das Porträt der Wohlbehüteten in einem Sparkassenkalender gefunden, es ausgeschnitten und auf Holz geklebt. „Mein … ich … ja … was soll ich sagen?“
Eine Woche zuvor rief ich sie an, um zu fragen, ob sie mir noch einmal ihre Geschichte erzählen würde. Fast übermütig sagte sie zu. Ich hatte die Geschichte ihrer Flucht und Heimkehr sieben Jahre früher schon einmal aufgezeichnet, einstündig fürs Radio; mir war das Gefühl geblieben, ihrem Lebensstoff Gewalt angetan zu haben: Schnitte, raffende Überleitungen, alles in allem 59 Minuten, 31 Sekunden. „Ja, kommen Sie“, sagte Erna Hirsch am Telefon, „diesmal erzähle ich Ihnen die ganze Wahrheit!“
Auf dem Tisch, rings um einen Tulpenstrauß, sind ihre Dokumente ausgebreitet: ein blaues und ein rotes Notizbuch, Ansichtskarten in Schwarzweiß, eingerissene Fotos und die lappigen, unendlich oft zusammen- und wieder auseinander gefalteten Papiere der Emigration. Oben auf dem Dokumentenberg ein Passbild. „Barcelona, 3. Januar 1934“ steht auf der Rückseite. Das Bild zeigt Erna Hirsch in einer Pelzjacke mit riesigem Kragen, über dem rechten Ohr eine weiße Angoramütze, in der Stirn eine sorgfältig eingedrehte Locke, einen „Herrenwinker“, wie sie erklärt. Vorsichtig, schützend hält sie die Fotografie in der halb geschlossenen Hand.
1932, in ihrer Heimatstadt Reutlingen, verliebte sie sich in Walter Hirsch. Er war Jude, und sie wollte auch jüdisch werden. Er schwärmte ihr vom Auswandern vor und hatte bereits zwei gescheiterte Versuche hinter sich. Er träumte von einer Pferdezucht in Argentinien. Walter José Hirsch, so nannte er sich. „Es zog ihn immer in den Süden, wo er nicht so aufgefallen wäre.“
Bis 1933 war Walter als Vertreter unterwegs. Er ging von Tür zu Tür, von Kunde zu Kunde. Sie starrten in sein Gesicht, und er spürte, was sich in ihren Blicken, Worten und Handbewegungen ankündigte. „In Reutlingen war er bekannt wie ein bunter Hund“, sagt sie. Reicher Leute Sohn, proletarisiert, aber doch ein Dandy, einer aber, der jederzeit in Reichsbanneruniform aufkreuzen konnte. Jude, Sozialdemokrat, Arbeiterschwimmsportler, Republikverteidiger, Snob. Er passte in viele Hassmuster, und Erna Hirsch sagt: „Sie hassten ihn wegen überhaupt.“
Walter zog’s wieder weg aus Deutschland, diesmal nach Palästina. Vorher wollten die beiden heiraten, ein jüdisches Ehepaar werden. Erna war bereits aus der Kirche ausgetreten und nahm Religionsunterricht. An Freitagabenden wurde sie zu Walters Eltern eingeladen, zum Sabbatbeginn. Sie sollte wissen, was da zu tun ist. Die Hausfrau zündet die Sabbatlichter an und segnet sie. Dabei verdeckt sie ihre Augen mit den Händen, die Handflächen den Lichtern zugewandt.
Erna musste lachen, weil die Männer in geschlossenen Räumen Kopfbedeckungen trugen. Sie stimmte sich als Zwanzigjährige darauf ein, Jüdin zu werden, verliebt und ohne Zukunftsangst, in einem Wohnzimmer zwei Stockwerke über der Straße mit den Fackelzügen der Braunhemden. Sie sagt oft „wir Juden“. Einmal erschrickt sie mitten im Erzählen. „Sein Grab wird doch nicht geschändet worden sein?!“
Vor unserer nächsten Verabredung fahre ich nach Stuttgart zum Friedhof Steinhaldenfeld, dessen jüdische Abteilung kürzlich geschändet wurde. Doch Walter Hirschs Grab war unberührt geblieben. Es gab kein unscheinbareres auf dem ganzen Friedhof, der Stein ein kniehoher Sockel, die Inschrift verblasst und nur mit dem Finger lesbar: „WALTER HIRSCH, 2. Mai 1908 – 6. August 1961“. Die Gewalt hatte sich über andere Gräber hergemacht, über die neueren mit den Zeichen lebendiger Totentrauer, über die hohen, blanken Erinnerungsmonumente.
Walter Hirschs Grabsockel war leer, nur Moos und Flechten breiteten sich darauf aus. Ich erzähle ihr, was ich gesehen habe. Sie ist erleichtert. Für einen Moment schien es, als ob die Geschichte von Walter und Erna Hirsch doch noch nicht zu Ende sei. Ich frage sie, wann sie letztmals an seinem Grab war. „Damals“, antwortet sie. Sie meint die erste Zeit nach seinem Tod. Dreißig Jahre lang hat sie Walters Grab nicht besucht. Ihre Liebe war tot, ehe er starb. Sie möchte nun alles auf einmal sagen, in ein einziges Wort bannen. „Mein Hirsch“, sagt sie, „er war ein großer Minnesänger und eine leichte Haut.“
Nach dem Exil wollte er Rache, nicht Wiedergutmachung. Legte sich mit allen an und landete im Gefängnis – in einer Zelle mit deutschen Kriegsverbrechern. Er bekam Stadtverbot. Als die französische Militärregierung ihn nach Reutlingen zurückließ, verhielt er sich still. Redete nicht mehr von blutiger Entnazifizierung, sondern wollte tanzen und ins Kino gehen.
Als Ernas Mutter starb, weigerte er sich, mit ihr zu trauern. Auch er musste einen Verlust verschmerzen: Mutter und Vater. Nach endlosen Nachforschungen hatte er herausgefunden, dass sie im KZ Theresienstadt gestorben waren. Er wollte wieder emigrieren, zum vierten Mal. Doch sie wollte nicht, nie wieder. „Bau mir ein Nest“, sagte sie zu ihm. Irgendwann schlief er bei einer anderen. So endete unter Tränen, Prügeln und Gezeter ihre Liebe, die sie durch zwölfeinhalb Jahre Emigration getragen hatte.
Zwischen den Dokumenten auf dem Tisch kramt Erna Hirsch das rote Büchlein hervor, ihren Taschenkalender aus der Zeit der Schweizer Internierung. Sie blättert schweigsam und zittrig darin, dann zeigt sie mir ein eingeklebtes Edelweiß, daneben in ein wenig ausgebleichten Buchstaben die Worte: „Freiheit heißt Selbsterziehung. Dein Hammi“. Das war sein Kosename. 1948 wurden sie geschieden. Walter verließ Reutlingen, beide heirateten wieder.
Manchmal trieb es ihn zu ihr zurück. Er lauerte ihr an Straßenecken auf. „Ich hab so Heimweh nach dir“, sagte er. 1961 war Erna mit ihrem zweiten Mann auf Urlaub in Frankreich. Eines Nachts träumte ihr, dass Walter in einem langen, weißen Hemd auf sie zuträte und die Arme nach ihr ausstreckte. Sie kreuzte sich das Datum des Traums im Kalender an. Wieder daheim, erfuhr sie, dass er in dieser Nacht gestorben war. Erna Hirsch ist nicht abergläubisch. Der ungedeutete Traum ängstigt sie nicht. Es war das letzte Mal, dass sie die Kraft ihrer gemeinsamen Liebe fühlte.
„Nehmen Sie nicht meinen jetzigen Namen oder meinen Mädchennamen, wenn Sie meine Geschichte aufschreiben. Nennen sie mich so, wie ich hieß, als ich all das erlebte: Erna Hirsch.“
Sie mag verlässliche Termine. Also haben wir uns jeweils am Dienstag um zehn Uhr verabredet, neunmal je zwei Stunden. Ein einziges Mal hat sie unseren Termin vergessen. Verdutzt stand sie im Nachthemd vor mir, improvisierte aber sofort. Im Morgenmantel setzte sie sich vor das Mikrofon, ohne ihren schwarzen Spazierstock mit dem Gummipfropfen aus der Hand zu legen.
Klingelt das Telefon, ruft Erna Hirsch auf halber Strecke: „Nicht auflegen!“ Mit dem Stock zu laufen ist mühsam, trotz der Hüftoperation. Gebrechlichkeit akzeptiert sie ebenso wenig wie das Alter. Am Wochenende schminkt sie sich. Eine Geduldsprobe für ihre Hände, aber sie liebt den akkuraten Strich.
Karl, ihr zweiter Mann, fürchtet Ernas Vorleben. Er weicht der Walter-Hirsch-Geschichte aus. Zu mir ist er freundlich, lachend winkt er von der Türschwelle. Als sie im Exil war, diente er als Wehrmachtssoldat im Osten; als Erna und Walter heimkehrten, saß er in Kriegsgefangenschaft. Erna vertraute ihrem Karl, weil er sesshaft sein wollte. „Wenn er einen Stüber hat“, sagt sie – wenn er also betrunken ist –, „dann schimpft er, ich hätte sowieso immer nur den andern geliebt. Ich bin selbst schuld daran, weil ich manchmal sage: ‚Mein Hirsch, der hat das und das viel besser gekonnt, Karlemann.‘ “
„Wo war ich?“, fragt sie, im Erzählen verloren, und blinzelt über das Mikrofon hinweg. Wieder muss sie von vorn beginnen, langsam und tastend.
1933, als das Brautpaar beim Reutlinger Standesamt das Aufgebot bestellt hatte, griff der Staat ein. Erna, mit 21 gerade volljährig, wurde von der Gestapo und vom Nazikreisleiter „bearbeitet“, sagt sie. Wurde in ein Gefängnis namens Armenkeller eingesperrt, bis sie verheult einwilligte, „dass ich von dem Juden lass“. Sie und Walter Hirsch zogen ihren Aufgebotsantrag zurück, zwei Tage nachdem sie ihn gestellt hatten.
Ihr Vater hatte ihr nachzugeben geraten. Zum Schein. Sie hatte kämpfen wollen. Walter auch. Er erschien im Armenkeller und sagte: „Sperrt mich ein!“ Beider Eltern bereiteten das Exil vor, das sie auf getrennten Wegen Ende 1933 antraten, über die Schweiz nach Barcelona, wo Verwandte von Walter lebten.
Erna Hirsch hebt jaulend die Stimme, beschwört mit beiden Händen die Zeit. Sie ahmt die Mäuler nach, denen sie auf den Bürgersteigen ihrer Stadt begegnete und die ihr den Abschied leicht machten: „Judenweib, bist nicht wert, dass du im Dritten Reich lebst!“
Einmal sagt Erna Hirsch, dass sie nach wie vor nur den Todesort, nicht die Todeszeit ihrer Schwiegereltern kennt. Sie starben in Theresienstadt, und ich entdecke in einem Buch ihre Sterbedaten: Vater Alfred am 23. Januar 1944, Mutter Klara am 21. September 1942. Ich teile ihr die Daten mit. Sie weint über diese von mir ohne Bedenken hergestellte Gewissheit. Die alte Frau ist ihr schutzlos ausgeliefert. Ich hätte es gern rückgängig gemacht.
Langsam schreibt sie sich die Daten aus dem Totenbuch ab. Sie sagt, dass sie jahrzehntelang nicht über ihre Verfolgung und Vertreibung sprechen konnte. Ihr Körper machte nicht mit beim Erzählen. Beine, Hände, Lippen, alles habe zu zittern angefangen. Erst seit ihrem siebzigsten Lebensjahr, so sagt sie, halte sie ihrer Geschichte stand.
Ich sehe, wie sie die Unheimlichkeiten des Erinnerns erlebt: plötzlich erhellte Landschaften, wiederkehrende Gefühle, aufblitzende Gesichter. Sie erleidet die Quälereien des Vergessens, krümmt sich im Sessel, ob ihr der Name eines Menschen, einer Straße, einer Kapelle nicht endlich einfallen will. Später, als ich schon im Treppenhaus bin, ruft sie mir laut den wiedergefundenen Namen hinterher, oder sie telefoniert in der Nacht, manchmal frühmorgens, und liefert das Vergessene nach, mit seltsamer Dankbarkeit in der Stimme.
Walter Hirschs Verwandte in Barcelona konnten ihnen nicht helfen. Erna aber fand Arbeit in einer Schneiderei, ehe sie die berufliche Selbstständigkeit wagte. Walter klapperte die wohlhabenderen Emigranten ab und pries ihnen die Herrenhemden aus der Werkstatt seiner Frau an. Erna hatte in kluger Voraussicht ihre Schnittmusterbögen aus Deutschland mitgenommen. Aber sie gab bald wieder auf, weil sie ohne Maschine nähen musste und sich die Hände ruinierte. Später arbeiteten sie beide „beim Film“; sie trug die Köfferchen einer Diva, er chauffierte den Regisseur. Sein Führerschein war Gold wert im Exil. Die spanischen Emigrationsjahre lebten sie jedoch von den Lebensmittelpaketen ihrer Schwiegereltern.
Jede Woche kam solch ein Päckchen an, selbst noch nachdem das Konfektionsgeschäft von Walters Eltern „arisiert“ worden war und Vater Alfred und Mutter Klara ihre Stadt hatten verlassen müssen, weil Reutlingen sich damit brüsten wollte, schon früh „judenrein“ zu sein. Verlässlich und nur mit einem Grußwort versehen, lag die Überlebensration in Barcelona beim Zoll bereit. Erna holte sie ab, anfangs noch bei harmlosen Stadtspaziergängen, später, während des Bürgerkriegs, unter dem Bombenhagel der falangistischen Flugzeuge und bedroht von Scharfschützen auf den Dächern.
In Spanien konnten sie heiraten – ein Triumph. Die Hochzeit war eine ärmliche Feier im Kreis von Emigranten. Ein hereingebetener Straßenmusiker spielte auf, es gab Kartoffelsuppe und eine Bockwurst, dazu Leitungswasser in beliebigen Mengen. Sie tanzten durch das kleine Emigrantenzimmer, bis es tagte.
Das Exil derer, die nichts Literarisches darüber hinterlassen haben, nennt die Forschung das „Exil der kleinen Leute“. Erna und Walter Hirsch gehörten zu ihnen. Sie besuchten in Barcelona die Volksküchen der Anarchisten. Dort war das Essen gratis. Die Anarchisten, in Katalonien stärkste politische Gruppierung, warben Walter an. Er wurde einer ihrer Kraftfahrer. Von nun an war er oft weg, auf Waffenkauf in Frankreich, wenig später schon beim Barrikadenkampf in den Straßen der Stadt. Sie konnte ihn, im weißen Hemd, vom Küchenfenster aus bisweilen sehen und brachte ihm in den Gefechtspausen das Essen.
Viel war sie jetzt allein, zusammen mit den schwer durchzufütternden Hunden, die Walter immer wieder anschleppte. Als die Ausländer zu Beginn des Bürgerkriegs in Scharen Barcelona verließen, blieben unzählige Hunde zurück, die allein in den nun leer stehenden Villen lärmten oder bettelnd durch die Straßen streunten. Walter mit dem großen Tiererbarmen sammelte sie ein, brachte etliche mit nach Hause, und sie teilte mit ihnen ihre Kriegsration Brot.
Wenn sie allein war, blätterte sie sich endlos durch das Fotoalbum ihrer Kindheit. Saß in der Küche, vor leeren Regalen, in einer fast unmöblierten Wohnung, zwischen hungrigen Tieren, und war selbst der leibhaftige Kohldampf. Draußen in der Stadt und an der Front in Aragón tobten die großen Zusammenhänge, Kräfte und Gegenkräfte, Namen von Generälen und hemdsärmeligen Volkshelden, Pamphlete, Transparente, Aufrufe, sinnlose Schreie. „Anarchisten“, sagt sie, „wir wussten nicht, was das war.“
Doch sie kennt keine freundlicheren, freigebigeren, geschwisterlicheren Leute. Waren immer hilfsbereit, und sei es mit dem Revolver, den die Freunde in kleinen, abgewetzten Handtaschen oder im Hosenbund trugen. Doch die Anarchisten machten ihr auch Angst. Und die hat sie immer noch. Wild und finster sahen viele von ihnen aus, erzählt sie, wenn sie unter ihren riesigen schwarzroten Fahnen standen und sich stolz die Bärte strichen. Sie kämpften sichtlich gerne, ihre Reden klangen feierlich, die Lieder rau und schwermütig.
Von Ordnung, Staat und Polizei hielten sie nichts. Auch nicht von Wahlen, selbst von gewonnenen. Bei vielen von ihnen musste sie immer an Zigeuner denken. Und an ein Wort ihrer Mutter: „Böse Menschen haben keine Lieder.“ Man konnte auch hören, dass die Anarchisten sehr rachsüchtig und grausam seien. „Ihnen“, sagt Erna Hirsch leise, „erzähl ich zum ersten Mal, dass wir mit denen zu tun hatten.“
Früher hütete sie sich, von ihnen zu sprechen. Das ist die nachgeholte Wahrheit, die zu berichten sie versprochen hat. In den Fünfzigern und Sechzigern brauchte sie, um den Parcours der Wiedergutmachung zu bestehen, den Rechtsbeistand der (kommunistisch geführten) Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Was hätte sie in den Mitgliedsbogen dieses Vereins eintragen, was bei den antifaschistischen Vereinsabenden erzählen sollen? Vielleicht, dass Walter nach dem kommunistischen Gegenputsch von 1937 in Katalonien als deutscher Anarchist sieben Monate im Knast der stalinistischen Tscheka verbracht hatte?
Erna Hirsch färbte ihre Geschichte um – aus Schwarz mach Rot – und berichtete bei den schweißtreibenden Zeitzeugenabenden, zu denen sie genötigt wurde, von einer angeblichen Zugehörigkeit zu den Internationalen Brigaden. Zum Glück verlangte niemand Details von ihr. Brigaden- oder Bataillonsnamen, Allgemeines genügte. Zur Sicherheit tat sie zerstreut, redete sich auf eine weibliche Nebenrolle heraus – und lacht über das Schelmenstück, in dem sie die linientreue Genossin mimte.
Doch warum drängt es sie jetzt, die Wahrheit zu sagen? Sicher nicht, um mit der Geschichte, mit ihren Fußnoten und Verwaltern ins Reine zu kommen. Sie stellt ihre eigene Souveränität wieder her, allzu lange war sie abhängig von fremden Mächten. Nur eine sanfte, unscheinbare Korrektur. Unscheinbarkeit ist ihre Ironie. Aristoteles definierte Ironie als jene Herablassung, mit der die Oberen den Unteren begegnen. Erna Hirschs Ironie ist eine andere. Und damit ich meine Rolle als Interviewer nicht überschätze und damit auch sie meine Rolle nicht überbewertet, verleiht sie mir den Namen „Doktorle“.
Sie hat mich ursprünglich eingeladen in ihre Geschichte, jetzt sucht sie Distanz, weist mir einen Platz an. Außerdem ist das „Doktorle“ ein Zeichen ihrer Ermüdung. Mehr als ein halbes Dutzend Erzählsitzungen haben wir hinter uns, sie fängt an, schlecht zu schlafen, sie sehnt das Ende herbei. Ihr Mann wird unruhig und macht ihr Vorwürfe. Solche Gedächtnisarbeit ist anstrengend. Lange hält sie meine Hand, als fordere sie den Abschied. So höflich ist sie gegen den Eindringling.
Als Franco gegen die Republik siegte, flohen Erna und Walter Hirsch aus Spanien. Der Weg durch die südfranzösischen Internierungslager begann. Traumhafte Namen: St. Cyprien, Argelès-sur-Mer, Sanary-sur-Mer, Les Milles. Erna Hirsch kam nach Argelès, in ein Lager am Strand. Die „Rotspanier“, zu denen sie gerechnet wurde, hausten in Zelten ohne Boden und erstickten in Sturmnächten beinahe am aufgewirbelten Sand. Das Lager wurde an seiner Südseite vom Meer begrenzt. Kein Stacheldraht trennte Erna von den Schiffen, die draußen vorüberfuhren. „Was hab ich geweint“, sagt sie versunken.
Hier begann Erna Hirsch ihre kleinen Notizbücher anzulegen. Volkslieder trug sie ein, um sie vor dem Einschlafen auswendig lernen zu können. Sie wollte, musste mitsingen können. Auch Französisch war zu lernen, und sie machte ihre Sprechübungen ebenfalls mit Hilfe des Büchleins. Nur knapp entgingen die Hirschs der Deportation, nachdem die Deutschen Ende 1942 auch Vichy-Frankreich besetzt hatten.
Nach der Flucht in die Schweiz wurden sie getrennt interniert. Jetzt diente ihr das kleine, abgegriffene, wie ausgewalkte Notizbuch auch als Poesiealbum, in das andere Internierte ihre Verse, ihre Liebesschwüre eintrugen. Außerdem schrieb sie selbst ihre Arbeitsstunden hinein und was sie verdiente. Über das Emigrantenheim hinweg flogen die alliierten Geschwader nach Deutschland. Radio Beromünster meldete die zweimalige Bombardierung ihrer Heimatstadt Reutlingen. Ungeliebt waren die deutschen Emigranten in der Schweiz, sie wurden fast mehr gefürchtet als die Nazis. Die Nähe Deutschlands war spürbar. Der Leiter des Internierungslagers drohte: „Wenn ihr nicht spurt, stellen wir euch an die Grenze!“
Einmal ging Erna Hirsch an dieser Grenze spazieren, auf einer schmalen Trennlinie zwischen Riehen und Lörrach: Die Grenzsoldaten, die Hakenkreuzfahne, Worte in einem vertrauten Dialekt, nur ein Schlagbaum. Sie erzählt mal zart, mal resolut. Spricht in gedämpfter Mundart; bisweilen fließen spanische, französische Brocken ein, lassen ahnen, dass sie als junge Emigrantin ein Mischidiom gesprochen haben mag. Sie poltert und sie erschrickt gleich darüber. Sie benutzt alte, ja romantische Floskeln: „Kurz und gut“, „eines schönen Tages“ – Sprechgesten einer Welt, in die Flucht, Emigration, Verfolgung nicht passen. Das Unerzählbare als harmlose Anekdote, als in sich rundes Stück Geschichte, an dessen unverlierbarem Besitz sie nie zweifeln würde.
So einfach sie meistens berichtet, so schmerzhaft trifft sie von Zeit zu Zeit die Erkenntnis ihrer Unzuständigkeit: „Das kann ich nicht erzählen!“ Mal Imperativ, mal Eingeständnis einer Unfähigkeit. Ich spüre, wie aufreibend es ist, sich Erlebtes von solcher Gewalt noch einmal als Erinnertes anzueignen.
Nach dem Krieg, als Heimgekehrte, arbeitete sie als Verkäuferin, später in Supermärkten, vor allem an der Kasse. Eine Zeit lang verdiente sie mit Heimarbeit Geld. Nähte Babyschuhe zusammen, flickte Regenschirme.
Der einzige schriftliche Teil ihrer Geschichte sind neben den winzigen Notizbüchern ihre beiden dicken Wiedergutmachungsakten. „Landesamt für die Wiedergutmachtung“ hieß eine westdeutsche Behörde, die größtenteils abgewickelt worden ist. Es leben nicht mehr viele Naziopfer. Auch sind die meisten Fälle erledigt, wieder gutgemacht. Die Sprache des Verwaltungsakts mit Namen Wiedergutmachung offenbart, in welcher gesellschaftlichen Einsamkeit die Überlebenden aushalten mussten.
Erna Hirsch wird ein Anspruch auf 7.024 Mark zugestanden. Aber: „Teilansprüche auf Entschädigung für Schäden an Körper und Gesundheit, an Freiheit, an Eigentum und Vermögen sowie im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen werden abgelehnt.“
Erna Hirschs Wiedergutmachungsakte erscheint wie ein Kaleidoskop, in dem sich ihre Geschichte noch einmal aus anderen Materialien zusammensetzt: aus ärztlichen Untersuchungsberichten, Gerichtsurteilen, Gutachten, Zeugenaussagen, eidesstattlichen Erklärungen. Leiden muss abgewogen werden. Eine Gefängnisstrafe von drei Tagen ist zu kurz: „Nur volle Monate sind anrechungsfähig.“
Ärzte sammeln die Symptome: Zittern, Erröten, Nackenverspannung, Kopfweh, Kurzatmigkeit, Beklemmung, Herzrasen, Bruststiche, Schweißausbrüche, Hitzegefühle, unruhiger Schlaf, Tränen bei scheinbar nichtigen Anlässen. Befund: „Es handelt sich bei der nervösen Übererregbarkeit um ein anlagebedingtes Leiden, das durch die Verfolgung wesentlich nicht mit verursacht oder richtunggebend verschlimmert worden ist.“ Die Krankheit Vergangenheit hieß damals im Fachjargon „vegetative Dystonie“, Lieblingsdiagnose der westdeutschen Nachkriegszeit.
Auch Briefe von Erna Hirsch finden sich in den Akten: „Da allein dastehe“, so beginnt einer; in einem anderen steht: „Weil einen Juden heiraten wollte“. Im Ämterkampf war ihr offenbar das Ich abhanden gekommen. Als Erzählerin vor dem Tonband hat sie ein schwaches Selbstvertrauen. Es soll nur nicht vergessen sein. Mehr fordert sie nicht.
Es fehlen ihr die großen Worte, die tönenden Abstrakta, die Einordnungs- und Bewertungsinstrumente, die ihre Geschichte beispielhaft werden lassen könnten. Sie kennt keine großen Sprüche. Nie würde sie Worte gebrauchen wie: Wir waren entrechtet! Oder: Meine europäische Odyssee. Sie verzichtet auf Vergleichsgrößen, Hypothesen. Sie bleibt bei ihrer antiaristotelischen Küchenperspektive. Bei ihrer Ironie von unten.
Was sie erlitten hat, ist nicht zum Wert geronnen. Sie fordert von ihrem Zuhörer keine Schwüre im Futur, kein flammendes „Nie wieder!“. Ihr Antifaschismus erhebt keinen Anspruch auf den Besitz der Zukunft. Sie ist ohne Ideologie aus dem Leiden zurückgekehrt. Ihr Leiden blieb körperlich, materiell, ohne Gloriole. Ihre Vergangenheit ruft nicht nach einer Staatsgründung, durch die alles besser werden soll.
Ihr Bericht ist auch kein Großgemälde, das uns überwältigt, sondern eher ein krakeliger Kassiber. Erna Hirsch hat keine Aphorismen ausformuliert, und sie entwirft kein Lehrstück. Ihre Geschichte ist kein Pfund, mit dem sie wuchert. Sie saugt aus ihrem Weg keine politische oder moralische Überlegenheit. Was sie erlebt hat, wird nicht zur geschichtsüberschreitenden Botschaft.
Dadurch, dass alles zu ihr gehört, ihr auf den Leib und in die Seele geschrieben ist und nicht ins Allgemeine drängt – erst dadurch fühle ich, wie dies alles auch mir hätte zustoßen können. Jetzt ist die Geschichte bei ihr selbst angekommen, so scheint es, denn sie sagt, als hätte sie die ganze Zeit jemand anders zugehört: „Mein Gott, sind das Erinnerungen!“ Dann lacht und stöhnt sie in einem. Sie scheint ihren Lebensstoff plötzlich wie komisch, wie verfremdet zu empfinden. Steht unter einer Wirkung, als sei sie eben aus einem Traum aufgewacht. Hat Fremdheitsgefühle im eigenen Gedächtnisraum. So sitzen wir da, im Schweigen des Abschlusses, ungläubig, da das Gehörte sich entfernt und verrauscht.
Dann klingelt es an der Haustür. Wie aus dem Schlaf geweckt, fährt Erna Hirsch hoch, greift nach ihrem Stock, wie angerufen von der Hausglocke. Schnell, fast ein wenig panisch steht sie aus dem Sessel auf, ächzt, fasst sich an die kaputte Hüfte, streicht ihren Rock glatt und im Loslaufen auch das Haar und ruft erwartungsvoll zu sich selbst, indem sie unsere gemeinsamen Erinnerungsausflüge endgültig beendet und dem Augenblick entgegenstürzt, der das Neue bringt, sie ruft: „Und jetzetle, wer kommt da?“
KURT OESTERLE, Jahrgang 1955, lebt als freier Autor in Tübingen. Im Verlag Klöpfer und Meyer wurde dieses Jahr sein Buch „Der Fernsehgast. Oder wie ich lernte, die Welt zu sehen“ (192 Seiten, 18,90 Euro) veröffentlicht.Erna Hirsch, Jahrgang 1912, lebte bis 1996. Sie wurde auf eigenen Wunsch in einem anonymen Grab beerdigt. Kurt Oesterle arbeitet an einem Buch über ihr Leben.
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