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Nullrunde für mehr Arbeit

Der öffentliche Dienst, Verbände und Kirchen könnten 360.000 neuen Stellen schaffen. Doch die Tarifverhandler betreiben Einspar-, nicht Beschäftigungslogik

Wenn keine neue Beschäftigung entsteht, steigen durch eine „Cash-Klausel“ die Löhne

Nehmen wir einfach ernst, dass die rot-grüne Bundesregierung und die Dienstleistungsgesellschaft Ver.di ihre höchste Priorität der Verringerung der Arbeitslosigkeit einräumt. Folglich müssten die neuen Tarifrunden auf mehr Beschäftigung abzielen. Was würde in der Republik passieren, wenn Bundeskanzler Schröder und der Ver.di-Vorsitzende Bsirske folgenden Pakt vorschlagen?

Für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst gibt es im Jahr 2003 eine Nullrunde. Mit den eingesparten 2,5 Prozent werden neue Arbeitsplätze und innovative Dienstleistungen geschaffen. Für den engeren öffentlichen Dienst wären das 220.000 neue Teilzeit- und Vollzeitstellen. Zusammen mit Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Stiftungen, die sich an den Tarifen für den öffentlichen Dienst orientieren, könnten 360.000 neue Arbeitsplätze entstehen.

Das wäre in der Öffentlichkeit eine beschäftigungspolitische Sensation – und vermutlich sogar mehrheitsfähig, da der feste Glaube an Wachstum und Hartz-Kommission sich in engen Grenzen hält. Die Ver.di-Verhandler bereiten sich aber auf eine ganz traditionelle Lohnrunde vor: 3,1 Prozent mehr sollen es wie in anderen Tarifbereichen werden. Und obwohl die rot-grüne Bundesregierung als Arbeitgeber die Federführung in den Tarifverhandlungen hat, werden Perspektivwechsel nicht diskutiert: Die ersten Äußerungen der kommunalen Arbeitgeber und von Finanzminister Eichel deuten eher auf eine Haushaltseinspar- als auf eine Beschäftigungslogik hin. Das ist fantasielos und leichtfertig. Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nur auf die Vorschläge der Hartz-Kommission zu setzen ist grob fahrlässig. Auch die Oppositionsparteien und Länder sind jetzt gefragt. Ein beschäftigungspolitischer Beitrag des gesamten öffentlichen, halb öffentlichen, kirchlichen und wohlfahrtsverbandlichen Sektors hat gute Gründe:

– Der öffentliche und halb öffentliche Dienst ist mit 8,2 Millionen Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Republik und hat eine beschäftigungspolitische Verantwortung, der er bisher nicht nachgekommen ist.

– Die öffentlichen Dienstleistungen als Arbeitsplätze müssen für die geplante Personal-Service-Agentur (Hartz-Kommission) geöffnet werden.

– Sparzwang und Stellenkürzungen im öffentlichen Dienst sind mit der Diskussion um ausbaubedürftige öffentliche Dienstleistungen zu verbinden: die vorschulischen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, Schulen, die wissenschaftliche Nachwuchsförderung, Jugendeinrichtungen und Zentren zur Ausländerintegration, Dienstleistungen für ältere Menschen, eine integrierte Sozial- und Arbeitsmarktberatung, stadtteilbezogene Initiativen, Non-Profit-Organisationen und vieles mehr. Stellenabbau und wohl begründete neue öffentliche Dienstleistungen müssen keine Gegensätze sein. Gerade die Städte, die ihre kommunalen Dienstleistungen inzwischen empfindlich einschränken müssen, sind für solidarische Arbeitsumverteilungsmodelle gefordert, die den Bürgern nutzen sowie Arbeitsplätze schaffen. Nicht zuletzt werden ihre Sozialhilfekassen geschont.

Ein solcher Typus von Tarifvertrag provoziert Ängste und Befürchtungen. Die Radikalität rechtfertigt sich nur angesichts der identitätszerstörenden Kraft der Arbeitslosigkeit. Es bedarf deshalb eines behutsamen Aushandlungsmodells, das für öffentliche Arbeitgeber und Gewerkschaften kalkulierbar und akzeptabel ist.

In einer ersten Phase ist die Nullrunde für die Beschäftigten – unterstellt sind 2,5 Prozent Lohn- und Gehaltszuwachs – auf ca. 5,5 Milliarden Euro festzulegen. In der Modellrechnung wird der Arbeitsplatz mit jährlich 25.000 Euro brutto veranschlagt und daher bei 5,5 Mrd. Euro ein Potenzial von 220.000 neuen Arbeitsplätzen ausgewiesen. 35 bis 75 Prozent davon könnten Teilzeitstellen sein. Für die halb öffentlichen Dienste, Kirchen und wohlfahrtsverbandlichen Dienstleistungen wird ein Umverteilungsvolumen von 3,5 Milliarden Euro unterstellt, das weitere 140.000 neue Arbeitsplätze bringt. Zu entscheiden wäre, ob die unteren Einkommensgruppen und Familien der unteren und mittleren Einkommensgruppen mit Kindern von der Regelung ausgenommen werden sollten. Das gilt auch für die Beschäftigten in den neuen Bundesländern.

Die Tarifparteien sollten den Mut haben, die dringlichsten öffentlichen Dienstleistungen auszuweisen, denen die Ausweitung der neuen Beschäftigung zugute kommen soll. Die Laufzeit des Tarifvertrags sollte auf zwei Jahre festgelegt werden, wobei zu entscheiden ist, für welches Jahr der neue Typus von Tarifvertrag gilt. Vieles spricht aufgrund der Dringlichkeit für 2003, die Kompliziertheit des Aushandlungsprozesses für 2004.

Zum Vertrauensschutz der Beschäftigten und der Gewerkschaften ist im Tarifvertrag eine Cash-Klausel vorzusehen. Damit ist eine Lohn- und Gehaltserhöhung von 2,5 Prozent gemeint, die automatisch eintritt, sofern sich Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht auf den Konkretisierungsebenen (Bund, Länder, Gemeinden) über die neuen Arbeitsplätze einigen. Eine solche Klausel schützt ernst gemeinte Solidarität und fördert den produktiven Einigungszwang der Tarifpartner. Leider führt nichts an der realistischen Einschätzung vorbei, dass einige Länder und Gemeinden (Berlin, Bremen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern et cetera) so schwerwiegende Haushaltsprobleme haben, dass ihnen erlaubt sein muss, in Sonderklauseln bis zu zwei Drittel des Umverteilungsvolumens zur Haushaltssanierung einzusetzen. Schließlich wären Gremien auf den verschiedenen Ebenen zu bilden, die den Tarifvertrag in konkrete Beschlüsse verwandeln.

Arbeitsmarktpolitisch ist der öffentliche Dienst bisher seiner Verantwortung nicht nachgekommen

In einer zweiten Phase müsste der Tarifvertrag auf die Beamten übertragen werden. Die Übernahme ist beamten- und verfassungsrechtlich kein Problem. Seit längerer Zeit ist die modifizierte Übernahme des Tarifvertrags eingespielt.

Wenn die Reduzierung der Arbeitslosigkeit und leistungsfähige öffentliche Dienstleistungen eine gemeinsame Zielvorstellung bilden, können die Tarifpartner des öffentlichen Dienstes ihre bisherige Politik des kleinsten Prozente-Nenners allein nicht mehr fortsetzen. Wer 8,2 Millionen Menschen beschäftigt, kann sich beschäftigungspolitisch nicht mehr taub stellen. Gewerkschaften und Arbeitgeber werden zu unfreiwilligen strukturellen Komplizen arbeitsmarktpolitischer Unverantwortlichkeit. Es bedürfte der Signale auf beiden Seiten, sich auf eine andere, produktivere Logik von Tarifverträgen einzulassen.

Viel Zeit ist nicht mehr: Am 22. und 23. Oktober tagt die Große Tarifkommission von Ver.di. und wird Tarifforderungen stellen. Nach allem, was bisher zu hören ist, wird es auf eine ganz konventionelle Prozenteforderung hinauslaufen. Die Ministerpräsidenten der Länder wollen die Tarifverhandlungen unmittelbar danach besprechen. Überfällig ist eine öffentliche Debatte, die einen beschäftigungspolitischen Beitrag des öffentlichen Dienstes einklagt. PETER GROTTIAN

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