Das unordentliche Dasein

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Die Vorbereitungen auf eine Reise, sagt Tante L., gehören zur Reise. Sie ist die Bahnreisende der Zukunft

Früher hätte nicht mal Einstein unsere Preise kapiert, heute versteht sie jedes Kind.Die Deutsche Bahn

Die USA hatten nie vor, einen Krieg gegen den Irak zu beginnen. Es ging nur darum, sagte der BMW-Fahrer, den texanischen Ölpreis in die Höhe zu treiben, denn – er senkte die Stimme in die Lagen wissenden Understatements – der Bush ist doch nur eine Marionette. Ich sah ihm an, dass er diese Preisgestaltungsmethode für verabscheuungswürdig hielt. Ich dagegen fand die Nachricht, dass die USA den Irak gar nicht angreifen wollen, eigentlich ungemein beruhigend, aber warum redet der Mann nicht über die Katastrophe, die uns allen unmittelbar bevorsteht und die noch niemand abgewendet hat? Die deutsche Bahnpreis-Reform.

Es dauerte lange, bis ich das verstand. Er fährt eben BMW. Er kann sich an seine letzten Aufenthalte in öffentlichen Verkehrsmitteln gar nicht mehr entsinnen. Und er mag auch keine Bahnhöfe. Vielleicht, dachte ich, sind VW-Fahrer anders. Die VW-Fahrer sprachen gerade über die kaum ausgerufene, schon wieder verblassende Utopie einer ganz neu zu gründenden Partei. Lafontaine und Gysi! Da begriff ich, dass ich allein war.

Die Immobilitätsrevolution des Schienenwesens ist für den 15. Dezember angesetzt und niemand interessiert sich dafür.

Es hat eben Nachteile, der letzte deutsche Zugfahrer zu sein. Oder einer der letzten. Jemand, der auf die Bahn angewiesen ist. Ein Mensch ohne Auto. Eine komische Figur. Der Stolz all der vielen Jahre, die heimliche Überlegenheit – dahin. Und plötzlich sieht man sich Plätze aufsuchen, an denen man noch nie war: Autohäuser und Fahrschulen.

Die meisten Motorisierten halten uns Bahnfahrer für Überzeugungstäter, für fundamentalistische Öko-Freaks. Aber das stimmt gar nicht. Jedenfalls nicht nur. Es war eiskalte Berechnung. Wer in der DDR zehn Jahre lang wartete, um dann einen Pappkarton zu besteigen, der musste schon irgendwie selber schuld sein. Natürlich waren wir bereits damals in der Minderheit. Aber uns Kinder autoloser Eltern verband ein heimlicher Stolz. Vielleicht war es auch reine Gewohnheit, den unmotorisierten Status bis heute beizubehalten. Ein Trägheitsmoment.

Und ernüchternd ist es schon zu sehen, wie sich die unmotorisierten Freunde von damals plötzlich als Besitzer dreier Autos outen. Irgendwie noch immer ungläubig sehen wir sie hinter ihrem Lenkrad sitzen und erklären, dass der Mensch im Grunde drei Autos braucht, unterbrochen von der eher beiläufigen Frage: Und was fährst du? – Zug, sage ich und ergänze verdeutlichend: Also Eisenbahn! – Die Antwort ist ein Nicken auf dem halben Weg zwischen Unglaube und Mitleid, wie man es für Menschen hat, denen nun mal nicht zu helfen ist.

Aber es gibt neue Bündnisse. Kinder besitzen einen untrüglichen Sinn für das Nonkonforme. Alle haben ein Auto, also sind wir etwas ganz Besonderes, denn wir haben keins. Kinder merken so etwas. Leider werden sie älter. Irgendwann stoßen sie auf die unweigerliche Antinomie ihrer Lage, dass sie es viel schwerer haben werden, von ihren Eltern mit achtzehn ein Auto zu erben wie alle anderen. Und wie ironisch sie nun unsere Reisevorbereitungen beobachten. Andere Familien packen in Ruhe ihre Koffer, stellen sie ins Auto und fahren los. Nur unsere Aufbrüche gleichen jedes Mal Weltuntergängen, bloß um einen Zug zu schaffen. Meist nehmen wir dann den nächsten. Aber genau das ist nun vorbei. Denn die Bahn will uns erziehen. Wer zu spät kommt, den bestraft die Deutsche Bahn. Mit dem härtesten aller Erziehungsmittel: Erziehung durch finanzielle Sanktionen. Nur wer sieben Tage vorher genau weiß, mit welchem Zug er in einer Woche fährt, spart vierzig Prozent. Ich habe noch nie in meinem ganzen Zugfahrerleben gewusst, ob ich in einer Woche wirklich Zug fahren will und mit welchem. Dafür habe ich die Bahn geliebt: einsteigen und losfahren, fast wie beim Auto. Und die Fahrkarten gibt es im Zug. – Nun gut, man soll nicht störrisch sein, man könnte das neue System Plan&Spar mal probieren. Aber was, wenn der Zug dann doch weg ist? Noch mal zum Schalter, nachdem man vor einer Woche schon da war, Strafgebühr und auch noch voll zahlen? Und das in einer mobilen Gesellschaft, in der keiner mehr genau sagen kann, ob er nächstes Jahr noch in derselben Stadt wohnt, im selben Beruf arbeitet. Vielleicht will die Deutsche Bahn uns neue feste Haltepunkte des Daseins geben. Wenn ich schon nicht weiß, was aus mir wird, weiß ich doch, wann ich Zug fahren werde. Ein Ersatztelos.

Der Oberreformator des deutschen Schienenwesens muss ein leidenschaftlicher Flieger sein. Einsteigen und losfliegen, Tickets gibt’s bei der Stewardess – das geht nämlich nicht. Das ist die blanke Anarchie. Nach Auffassung der Bahn ist ein Zug ein missverstandenes Flugzeug. Aber ich habe erst jetzt begriffen, was ein Auto wirklich bedeutet: Kein Autofahrer muss sieben Tage früher wissen, ob und wann genau er losfährt.

Vielleicht will die Deutsche Bahn uns künftig neue feste Haltepunkte des Daseins geben

Dabei – welche Krisen haben wir gemeinsam überstanden, die Deutsche Bahn und ich. Den Tag, an dem wir zweieinhalb Stunden in Naumburg auf den ICE warten mussten. Die Nacht, als man uns von Leipzig mit Taxis nach Berlin brachte, als endgültig klar war, dass der Zug aus München nimmermehr in Leipzig ankommen würde. Den Morgen, als der ICE plötzlich stehen blieb, mitten im Artikel „Warum wir mit der Zukunft fertig werden“. Das Licht ging aus. Die Temperatur sank. Die Türen ließen sich nicht öffnen. Alles eine Frage der Bordelektrik. Und die war mausetot. Nichts deutete darauf hin, dass die Deutsche Bahn mit unserer näheren Zukunft fertig würde. Draußen fuhren mit ziemlich überheblichem Tempo ein paar schmutzige Regionalexpresse vorbei. Wieso fahren die und nicht wir?, fragte in geübtem Beschwerdeton eine ältere Frau und wollte auf der Stelle durchbrechen zum Servicepersonal. Sie kam nur bis zur Tür. Und die blieb zu. – Weil richtigen Zügen vereiste Oberleitungen völlig egal sind, erklärte ein Mann mit dem Gestus des gebürtigen Misanthropen. In plötzlicher Furcht sahen wir nach oben. Wir standen genau unter der Einflugschneise von Schönefeld. Durch ein Notaggregat teilte uns der Bordfunk mit, dass wir in völlig ungewisser Zukunft, von der noch niemand sagen könne, ob wir mit ihr fertig werden, eine Diesellok erwarten, die den ICE abschleppen soll. Die Fraktion der Münchner Geschäftsleute verlor kurz die Beherrschung und ließ sich zu einigen bahnfeindlichen Äußerungen hinreißen. Die Klarsichtigen schlugen anstelle Diesellok Dampflok vor, weil die beim Abschleppen doch gleich die Oberleitungen auftauen könnte. Keiner glaubte mehr an den Fortschritt. Und wir haben es doch geschafft. All das zählt jetzt nicht mehr?

Aber an wen hat die Bahn dann gedacht, als sie ihre Reform schuf? Sie muss an meine Tante L. gedacht haben. Wenn Tante L. verreist, weiß sie mindestens einen Monat früher, wohin sie fährt und um welche Uhrzeit, denn sie ist Rentnerin. Dann beginnen die Erkundigungen nach den günstigsten Verbindungen und die Reservierungen, so verhütet Tante L. einen Mobilitätsschock. Die Vorbereitungen auf eine Reise, sagt Tante L., gehören zur Reise selbst. Tante L. ist die Bahnreisende der Zukunft.

Kerstin Decker lebt als freie Publizistin in Berlin