: Falle für Putin
Im Moskauer Geiseldrama hat sich Russlands Präsident einmal mehr als starker Mann gezeigt. Doch seine Politik der starken Hand schafft mehr Probleme, als sie löst
Es war spät am Abend, als das Kommando von Schamil Bassajew den Kreml besetzte. Dank sorgfältiger Vorbereitung verlief der Überfall blitzschnell und reibungslos. Die Tschetschenen verbarrikadierten alle Ein- und Ausgänge. Sie zogen ihre Tarnuniformen an und holten Waffen aus dem Untergeschoss des Kremlpalasts, die sie dort vorsorglich deponiert hatten. Bald blinkten überall auf den Kremlmauern die Zielsuchgeräte tschetschenischer Scharfschützen …
So stellte sich 1995 der Moskauer Autor Wiktor Pelewin eine tschetschenische Geiselnahme in Moskau vor. Kurz davor, im Juni desselben Jahres, hatte Feldkommandant Bassajew Patienten und Ärzte eines Krankenhaus in der Kleinstadt Budjonowsk als Geiseln genommen, um einen Waffenstillstand zu erzwingen. Der damalige Präsident Boris Jelzin lenkte ein. Nach langen Verhandlungen zog er seine Truppen ab und überließ Tschetschenien sich selbst. In der abtrünnigen Teilrepublik wurde ein neuer Präsident gewählt. Der aber kam nicht gegen Warlords wie Bassajew oder Sklavenhändler wie den mächtigen Clan der Barajews an. Tschetschenien versank erneut im Chaos.
Jelzins Nachfolger Wladimir Putin verdankt seinen Posten nicht zuletzt der Entscheidung, die abtrünnige Republik erneut zu besetzen. Allein deswegen kam es für den Präsidenten während der eben beendeten Moskauer Geiselnahme nicht in Frage, auf die Forderungen der Geiselnehmer einzugehen – zumal diese alles andere als klar formuliert waren. Hatte Bassajew 1995 noch den Stopp einer laufenden russischen Offensive gefordert, so wollte Chefgeiselnehmer Mowsar Barajew dieses Mal den Rückzug aller russischen Truppen erzwingen. Dann ließ der Terrorist verlauten, er wolle nur mit einem von Putin persönlich bevollmächtigten Verhandlungsführer sprechen. Zugleich ließ Barajew Oppositionspolitiker und Popstars ins verminte Theatergebäude. Ihnen gab er zu verstehen, dass alle Verhandlungen am besten mit seinen Vorgesetzten in Tschetschenien, Präsident Maschadow und Emir Bassajew, geführt werden sollten.
Vermutlich lag den Geiselnehmern gar nicht an einer „klassischen“ politischen Erpressung, wie Wiktor Pelewin bereits 1995 vermutet hatte. Die Kremlbesetzung verwandelt sich in seiner Erzählung in eine banale TV-Show. TV-Teams und Popstars liefern sich bittere Kämpfe um einen Platz unter den Geiseln. Oppositionelle Politiker drängen in den Kreml, schließlich müssen die Tschetschenen fliehen – überwältigt von der Macht der Massenmedien.
Mowsar Barajew hat diesen Fehler nicht gemacht. Der mediale Teil seiner Operation war genauso gut vorbereitet wie der militärische. Noch vor der Geiselnahme ließ er ein Video für den arabischen TV-Sender al-Dschasira aufnehmen. Selbstmordattentäterinnen mit verhüllten Gesichtern sollten die russischen Zuschauer in Angst und Schrecken versetzen. Das Video verfehlte seine Wirkung nicht, obwohl sich selbst der Moskauer Al-Dschasira-Korrespondent über die untypisch emotionslose Darbietung der selbstmörderischen Rebellenwitwen wunderte: denn traditionell tragen die Tschetscheninnen keinen Vollschleier. Im arabischen Orient aber kommt dieses Kleidungsstück sehr gut an – etwa bei Leuten, die den bewaffneten Kampf gegen die Feinde des Islam sponsern.
Auch Mowsar Barajew selbst passte an sich nicht zur islamischen Vorstellung von einem sich selbst opfernden Märtyrer. An die Spitze des Clans gelang er nach dem Tod seines Onkels Arbi, eines tschetschenischen Feldkommandanten, der für Geiselmorde, kriminelle Machenschaften und Menschenhandel berüchtigt war. Nachdem Arbi Barajew von russischen Truppen getötet worden war, ließen die Ältesten seines Heimatorts nicht zu, dass die Leiche in „heiliger Heimaterde“ begraben wurde. Auch ihnen war der Guerillero zu brutal gewesen.
Mowsar Barajew stand also vor der fast unlösbaren Aufgabe, seinen brutalen Onkel zu übertreffen, um als dessen Nachfolger anerkannt zu werden. Eine Geiselnahme wie die in Moskau hätte diesen Zweck vorzüglich erfüllt – vorausgesetzt, die Geiselnehmer hätten sie überlebt. Einiges spricht dafür, dass Mowsar Barajew und einige seiner Leute tatsächlich fliehen wollten. Viele hatten Zivilkleidung dabei. Der russische Geheimdienst soll sogar einen Zeitzünder gefunden haben, der wohl kaum ins Arsenal der Selbstmordattentäter gehört. Die Terroristen scheinen also geplant zu haben, nach ihrer spektakulären Geiselnahme mit einem Teil der freigelassenen Geiseln zu fliehen, während die Selbstmordattentäter das Theatergebäude mit dem Rest der dort gefangenen Menschen sprengen. Hätte dieses Szenario geklappt, dann hätte Mowsar Barajew endlich die Anerkennung der Rebellen gehabt, und der vergessene Tschetschenienkrieg wäre wieder ins Blickfeld der Weltmedien gerückt.
Aber Wladimir Putin setzte ein anderes Szenario durch. Russlands Präsident hat ganz offensichtlich aber aus den Fehlern seines Vorgängers Jelzin gelernt. Putin weiß, dass er keinesfalls sein Gesicht zeigen darf, wenn er gerade nicht die Oberhand hat. Wenn ein Atom-U-Boot versinkt oder die Terroristen hunderte von Menschen umzubringen drohen, vermeidet der Präsident direkte Ansprachen an die Nation. Auf keinen Fall darf seine Person mit blamablen Aktionen in Zusammenhang gebracht werden.
Als politische Figur ist Stärke für Putin das Wichtigste. Ungeachtet des offensichtlichen Misserfolgs seines Tschetschenienfeldzugs und der gesamten Sicherheitspolitik gelingt es dem Präsidenten und seinen Medienberatern, das Image des „starken Mannes“ aufrechtzuerhalten. Dabei ist Putins Sicherheitsstaat bestenfalls virtuell. In der Realität – das hat die Moskauer Geiselnahme deutlichst gezeigt – können sich Terroristen in Russland frei bewegen. Die Schikanen gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung und mörderische Säuberungsaktionen sorgen für den Nachwuchs für die Rebellen, Terroristen und Islamisten. Statt sich mit den Ursachen von Terrorismus und Widerstand zu befassen, setzt der Kreml auf nackte Gewalt. Er geht mit den Geiseln in Moskau genauso wenig schonend um wie mit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien.
Nach der Befreiung der Mehrheit der Geiseln erscheint Wladimir Putin als Sieger auf dem Bildschirm. Er sagt kein Wort zur Blamage seiner Sicherheitsdienste, er geht auch nicht auf die Vorgeschichte des Tschetschenienkonflikts, geschweige denn auf mögliche Lösungen ein. Der Präsident zeigt keine Zeichen von Schwäche. Er feiert einen Sieg über den internationalen Terrorismus – und kommt erneut gestärkt aus der Krise.
Aber Putins Politik der starken Hand kann nicht verhindern, dass sich Geiselnehmer mit Tonnen von Waffen und Sprengstoff frei durch die russische Hauptstadt bewegen. Wenn der Präsident auch weiterhin selbst an der Spirale von Gewalt und Gegengewalt dreht, dann könnten die Terroristen nächstes Mal wirklich den Kreml besetzen.
BORIS SCHUMATSKY
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