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Die Entfesselung der Fleißigen

Das Credo der neuen chinesischen Unternehmer lautet: „Gentlemen gehen nicht in die Partei“Schanghai mit seinem Bauboom gilt längstals dynamischste Stadtdes 21. Jahrhunderts

aus Chengdu GEORG BLUME

Seine Firma logiert in der nordchinesischen Provinzhauptstadt Shenyang, sein derzeit größtes Wohungsbauprojekt läuft in Peking und seine Familie wohnt in Schanghai. Doch in keinem der drei Orte ist der Chef des führenden chinesischen Immobilienkonzerns Huaxin derzeit häufig anzutreffen. Denn Lu Keng residiert dieser Tage in seiner alten Heimat Sichuan, im armen Westen der Volksrepublik.

Dort trifft man den 51-jährigen Erfolgsunternehmer in einer alten Hotellobby der Provinzhauptstadt Chengdu, wo er bei einem Glas englischen Zitronentee gerade dabei ist, Tagebucheintragungen vorzunehmen. Er trägt ein gelbes Polohemd unter einer braunen Lederjacke. Seine stark gefetteten und streng nach hinten gekämmten Haare könnten im Westen auf eine alte Elvis-Presley-Liebe hindeuten. Doch Lu kennt von Elvis nur den Namen. Rockmusik ist ihm fremd, denn ihre Rezeption in Asien fiel in die schwierigste Zeit seines Lebens. Die Sechziger- und Siebzigerjahre, als im Westen die eigentliche und in China die so genannte Kulturrevolution stattfand, verbrachte Lu als Bauer auf dem Land und als Arbeiter in der Fabrik.

Der große Steuermann Mao Tse-tung hatte damals die Angehörigen von Intellektuellenfamilien zum Proletarierdasein verbannt. „Ich habe in der Kulturrevolution zehn Jahre verloren“, gesteht Lu bereitwillig. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen revolutioniert seine Generation das eigene Land heute tiefschürfender, als es Angehörige seiner Generation im Westen in ihren Ländern je vermochten. Das liegt daran, dass Lu die Besitzverhältnisse ändert. Mit jeder neuen Wohnung, die seine Firma Huaxin bauen lässt und an private Besitzer verkauft, schafft Lu neues Privateigentum, das es im kommunistischen China bisher nicht gegeben hat. Zugleich mehrt er als größter Anteilhaber von Huaxin den eigenen Privatbesitz. Noch vor zehn Jahren war das in China unmöglich – da gehörte aller Gewinn großer Unternehmen dem Staat.

Man merkt Lu seine revolutionäre Tätigkeit kaum an. Er erzählt von einem Deutschlandbesuch, über den er einen zehnseitigen Reiseessay verfasste. Nur alle fünf Minuten, wenn wieder das Handy klingelt und er seinen Mitarbeitern mit leiser Stimme Anweisungen erteilt, spürt man die Macht des neuen chinesischen Unternehmertums. Die Anrufe ereilen Lu von Baustellen im ganzen Land. In Chengdu macht der Chef jetzt eine neue auf.

„Olympischer Garten“ soll auch hier eine moderne Neubausiedlung mit Gärten und Brunnen heißen, wie sie die Firma Huaxin in Schanghai bereits vollendete und in Peking gerade errichtet. So verändern Immobilienunternehmen wie das von Lu im rasanten Tempo das Gesicht des ganzen Landes: Hochhauskomplexe erwachsen aus Barackensiedlungen, egal in welches Provinznest der riesigen Republik man kommt. Schanghai, die Speerspitze des Baubooms, gilt dabei längst als dynamischste Stadt des 21. Jahrhunderts. Hinter allen Veränderungen aber steht die gleiche, historisch ungeprüfte Kraft: Chinas entfesseltes Unternehmertum. Schon zählt das Land 25 Millionen Privatunternehmen, die – je nach Quelle – zwischen 50 und 70 Prozent des Bruttosozialprodukts erwirtschaften.

Lus Karriere ist typisch. Wie er mussten fast alle heute erfolgreichen Großunternehmer ihre Erziehung in der Kulturrevolution unterbrechen. Wie Lu fingen fast alle bei null an, als im Jahr 1992 der 14. Parteitag der KP erstmals den Aufbau von Privatunternehmen in den Städten gewährte. Und wie Lu wurden die meisten Unternehmer der ersten Stunde im Immobiliengeschäft reich.

Eines aber unterscheidet Lu von allen anderen: Er stammt aus der vor der Revolution von 1949 bedeutendsten Unternehmerfamilie Chinas. Schon 1926 gründete sein Großvater Lu Zuofo mit der Minsheng Shipping Company die später größte Handelsfirma des Landes. Seine Schiffe retteten einst die in Nanking ansässige Regierung vor dem Ansturm der Japaner im Zweiten Weltkrieg. Weil sogar Mao Großvater Lu schätzte, lud er ihn als Verkehrsminister in seine erste Revolutionsregierung ein. Doch dann tobte der Klassenkampf und Enkel Lu war bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr gezwungen, den eigenen Familienhintergrund zu verschweigen.

„Noch in den Achtzigerjahren wurde mein Großvater öffentlich als Großkapitalist beschimpft. Uns war jeder Familienstolz fremd“, erinnert sich Lu. Das änderte sich erst in den Neunzigerjahren – bis zu dem Punkt, an dem die Partei auf ihrem unmittelbar bevorstehenden 16. Parteitag Unternehmern die Mitgliedschaft anbieten und einige von ihnen direkt ins Zentralkomitee befördern will. So kann Lu von seinem Familienhintergrund heute sogar profitieren: Partei- und Staatschef Jiang Zemin ehrte seinen Großvater, indem er dessen Namen auf dem wichtigsten neuen Denkmal von Peking, dem „Millennium-Turm“, eingravieren ließ. Prompt bescheinigte die Pekinger Zeitschrift Zeitgemäße Manager Lu einen „hohen gesellschaftlichen Status“. Ein wenig hat das den Huaxin-Chef mit der Partei versöhnt, doch war er zu lange ihr Opfer, um sich ihr heute anzuschließen: „Gentlemen gehen nicht in die Partei“, lehnt er einen Beitritt zur KP höflich ab.

Jüngere Unternehmer denken noch weniger daran. Zhang Rongming war einst der talentierteste Jungmanager einer heruntergekommenen staatlichen Damenunterwäsche-Fabrik in Peking. Nun ist der Jeansträger im lila Hemd unter hellem Sakko mit vierzig Jahren größter Anteilhaber und unumstrittener Chef des erfolgreichen Textilherstellers mit dem französischen Namen „Aimer“. Gerade hat er ein neues Werk in Südchina eröffnet. Jedes große Kaufhaus der Republik führt inzwischen seine Slips. „Früher nannten mich die Leute Generaldirektor. Heute nennen sie mich Boss“, beschreibt Zhang den Weg seiner Firma von einem Staatsbetrieb über verschiedene Genossenschaftsformen bis hin zum traditionellen Unternehmerbetrieb.

In seiner neuen Rolle fühlt sich der ehemalige Lehrer sichtlich wohl: „Die Regierungsstellen behandeln unsere Firma höflich. Es gibt keine Pflicht mehr, die Partei zu loben“, erklärt Zhang seine neuen Unternehmerfreiheiten. Er selbst hatte als Lehrer an der Stahluniversität Pekings einst an der Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens teilgenommen und deren blutige Niederschlagung am 4. Juni 1989 miterlebt. „Der 4. Juni hat mein Leben insofern verändert, als dass ich der Politik den Rücken gekehrt habe und in die Wirtschaft gewechselt bin“, sagt Zhang. Er vergisst dabei nur, dass der 4. Juni auch die politische Wende markierte, die den damaligen Parteichef von Schanghai, Jiang Zemin, ins Zentrum der politischen Macht beförderte. Dreizehn Jahre lang hat Jiang seither die Volksrepublik regiert. Ohne seinen beständigen Liberalisierungskurs in Wirtschaftsfragen wären Unternehmer wie Zhang nie zum Zuge gekommen. Doch schon sitzen die neuen Bosse so fest im Sattel, dass sie der bevorstehende Rücktritt Jiangs kaum kümmert: „Das Parteikomitee in unserer Firma hat Jiangs Reden diskutiert. Ich habe das finanziell unterstützt, aber für die Treffen keine Zeit“, sagt Zhang mit einem ironischem Lächeln, das alle alten kommunistischen Traditionen sanft über Bord wirft.

Anders geht es wirtschaftlich nicht weiter. Aber bedeutet das, dass in China heute eine neue Ausbeuterklasse entsteht, die sich skrupellos des riesigen Heers von Arbeitsfähigen bemächtigen wird, um aus der Volksrepublik den Sweatshop der Welt zu machen? Noch stehen Unternehmertypen wie Lu und Zhang mit ihren gebrochenen Lebensläufen für ein kompliziertes Verhältnis zu Gesellschaft und Partei. Doch bald dürfte sich Chinas freies Unternehmertum nicht mehr einbinden lassen. Dann aber könnte der Fall eintreten, dass der KP neue, domestizierende Aufgaben zuwachsen – und sie damit im Grunde erstmals historisch notwendig würde.

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