: Ein Berg wie das Leben
Der Ätna erinnert die Sizilianer tagtäglich an die Vergänglichkeit ihrer Existenz – und sorgt für eine Mischung aus Fatalismus und Lebensfreude, die sich den Besuchern vom Festland schwer erschließt
von RALPH BOLLMANN
Glutrot wie das frische Magma ausdes Vulkans leuchtet der Sugo aus reifen Tomaten; schwarzviolett wie erstarrte Lava schimmern darunter die öligen Auberginen hervor; glänzend weiß wie der Schnee auf dem Gipfel des Berges blendet der frisch geriebene Käse obenauf. Mit der „Pasta alla Norma“ haben die Sizilianer dem Ätna ein kulinarisches Denkmal gesetzt. Sogar beim Essen, das in Sizilien mehr noch als in anderen Regionen Italiens im Mittelpunkt der Alltagskultur steht, ist der Vulkan stets gegenwärtig.
Die deutschen Zuschauer, denen das Fernsehen in diesen Tagen wieder die Bilder des feuerspeienden Berges ins Wohnzimmer liefert, begreifen einen solchen Ausbruch als Betriebsunfall der modernen Zivilisation. Flughafen gesperrt, Zeltstadt errichtet, Lavaströme umgeleitet: Es ist das übliche Repertoire technokratischer Krisenbewältigung, das die mediale Vermittlung des Ereignisses beherrscht. Und die befragten Vulkanologen müssen sich rechtfertigen, warum sie solche Eruptionen nicht längst so exakt voraussagen können wie Jörg Kachelmann das nächste Unwetter.
Doch am Ätna geht es nicht um eine Flutwelle, die für ein paar Wochen die Schlagzeilen beherrscht. Es geht um ein Phänomen, das seit Jahrhunderten die sizilianische Kultur prägt, um ein Phänomen, das diese Kultur in ihrer heutigen Form überhaupt erst hervorgebracht hat. Der mehr als 3.000 Meter hohe Berg nimmt nicht nur rund ein Viertel der sizilianischen Ostküste ein und ist von fast jedem Punkt Ostsiziliens sichtbar – er erinnert die Inselbewohner auch tagtäglich an die Vergänglichkeit ihrer Existenz und ruft damit jene eigentümliche Mischung aus Fatalismus und Lebensfreude hervor, die sich den Bewohnern des Festlands so schwer erschließt.
Gerade deutsche Reisende tun sich mit der Erkenntnis oft schwer, dass die vermeintliche Lebensfreude der Sizilianer einer zutiefst pessimistischen Weltsicht entspringt. Nicht umsonst gilt ausgerechnet Catania, die mehrfach zerstörte Großstadt direkt zu Füßen des Ätna, als die pulsierendste Stadt der Insel. Weil schon morgen wieder alles vorbei sein kann, genießen die Bewohner in den Intervallen zwischen zwei Katastrophen das Leben in vollen Zügen.
Keine andere Epoche der europäischen Kunstgeschichte verkörpert diese Lebensfreude, die aus einem tiefen Bewusstsein der Vergänglichkeit entspringt, so sehr wie der Barock. Gerade in den Katastrophenregionen des sizilianischen Ostens hat sich der barocke Städtebau zu seinen unerreichten Höhepunkten aufgeschwungen, nachdem der große Vulkanausbruch von 1669 und das folgende Erdbeben von 1693 zahlreiche Städte zerstört hatten. Das Jahr 1693 ist für die Sizilianer noch immer, ohne Angabe des Jahrhunderts, „il novantatre“ – so sehr hat sich das Ereignis in die kollektive Erinnerung eingegraben.
Als könnten sie die Gefahr damit bannen, richteten die Catanesen beim barocken Wiederaufbau ihrer Stadt die neue Hauptachse direkt auf den Gipfel des Vulkans aus – und nannten sie Via Etnea, Ätnastraße. Als wichtigster Baustoff diente genau jenes Lavagestein, das die früheren Ausbrüche hinterlassen hatten. Es macht im heiteren Überschwang der barocken Architektur jene düstere Note sichtbar, über die man andernorts so leicht hinwegsehen kann.
Aus Catania stammte auch jener Opernkomponist, der den gefälligen Wohlklang des italienischen Belcanto um eine tragische Dimension bereicherte. Die unheimlichen Kräfte der Natur spielen in vielen Werken Vincenzo Bellinis eine tragende Rolle – sei es bei der gallischen Priesterin, die der Oper „Norma“ ihren Namen gab, sei es bei der Titelfigur der „Schlafwandlerin“, die sich zu einer schaurig-schönen Koloraturarie aufschwingt.
Auch in diesem Jahrhundert haben sich die tektonischen Kräfte wiederholt bemerkbar gemacht, denen auch der Ätna seine Aktivität verdankt. Im Jahr 1908 forderte ein Erdbeben, das die Hafenstadt Messina fast vollständig vernichtete, annähernd 100.000 Todesopfer. Als im Jahr 1968 erneut die Erde bebte, wurde ein ganzer Landstrich im Westen der Insel verwüstet.
Im Vergleich zu den Erdbeben haben die Ausbrüche des Ätna selbst in den vergangenen Jahrhunderten meist nur wenige Opfer gefordert. Im Gegensatz zum Vesuv, der vor 2.000 Jahren praktisch explodierte und ganze Römerstädte unter sich begrub, bewegen sich die Lavaströme des Ätna meist sehr langsam vorwärts. Während sich die Bewohner retten können, verschlingt der Vulkan Haus und Hof. „Der Berg gibt, der Berg nimmt“, pflegen die Bewohner der wohlhabenden Dörfer am Südhang des Ätna zu sagen. Denn die Lavaströme früherer Ausbrüche haben ihnen den fruchtbarsten Boden der ganzen Insel beschert, auf dem Wein, Zitrusfrüchte oder Gemüse so gut gedeihen wie sonst nirgends. Die Tomaten und Auberginen, die der „Pasta alla Norma“ ihre vulkanische Anmutung verleihen, sind tatsächlich ein Geschenk des Ätna.
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