: Auf Messers Schneide
aus Kabul JAN HELLER
„Dieses Treffen ist der Weg zur Erlösung.“ Diesen Satz übermittelte Hamid Karsai, bald darauf Premier der Übergangsregierung, vor einem Jahr per Satellitentelefon aus Afghanistan an die Konferenz, die auf dem Bonner Petersberg einen Fahrplan für den Neuaufbau des Staates beschloss. Ein Jahr nach dem Bonner Afghanistan-Abkommen – offiziell „Übereinkommen über vorläufige Regelungen in Afghanistan bis zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen“ – versammelt sich heute auf dem Petersberg erneut diplomatische und politische Prominenz. Bilanz ist zu ziehen. Kanzler Schröder kommt, und natürlich ist der afghanische Staatschef Hamid Karsai ebenso angereist wie der UN-Sondergesandte Lakhdar Brahimi und sein Vorgänger, Francesc Vendrell, nunmehr EU-Vertreter in Kabul. Zu Joschka Fischer gesellen sich Amtskollegen aus London, Kabul, Islamabad und Teheran, Washingtons Sonderbeauftragter Zalmay Khalilzad sowie rund 25 weitere Delegationen.
Eine halbe Autostunde entfernt, in Bad Honnef, sitzen ebenfalls wieder wie vor einem Jahr Vertreter der Zivilgesellschaft um einen runden Tisch. Die Spitzendiplomaten werden sie nicht zu Gesicht bekommen. Sie könnten ihnen die Jubiläumsstimmung mit Kritik verderben, denn die Bilanz in Afghanistan fällt zwiespältig aus.
Einerseits besteht über die Fortschritte kein Zweifel: Die Taliban sind gestürzt, die Afghanen konnten aufatmen. Schulen und Universitäten sind auch wieder für Mädchen offen, in Kabul ist ein Wald von Satellitenschüsseln gewachsen. Rasieren ist nicht mehr illegal, und ein paar Frauen haben selbst die Burka abgelegt.
Andererseits ist in der Präambel des Bonner Abkommens davon die Rede, dass das Land „seine politische Zukunft im Einklang mit den Grundsätzen des Islam, der Demokratie, des Pluralismus und der sozialen Gerechtigkeit in Freiheit“ bestimmen könne. Das kann ein Jahr später so aussehen: Ein Gouverneur verbietet gemeinsame Hochzeitsfeiern von Männern und Frauen, ein anderer macht Videotheken dicht. Gleich außerhalb Kabuls werden Musiker zusammengeschlagen. Selbst in der Hauptstadt sitzen Fundamentalisten in Schlüsselstellungen. Der Oberste Richter befürwortet Amputationsstrafen, der Fernsehchef verbannt singende Frauen vom Bildschirm. Abdullah Wardak von einer prosaudischen Fraktion ist bis heute Minister, obwohl er sich geweigert hatte, das Bonn-Abkommen zu unterzeichnen. Und jetzt, bei der zweiten Petersberger Konferenz, vertreten Karsai und Außenminister Abdullah ganz offiziell die „Islamische Regierung Afghanistans“, eine Bezeichnung, die reaktionäre Mullahs auf der Loja Dschirga im Juni im Handstreich durchsetzten.
In Kabul hat ein unerträglicher Personenkult um den ermordeten Mudschaheddin-Führer Ahmed Schah Massud, dem sich niemand zu widersetzen wagt, die Tyrannei der Taliban abgelöst. Die Polizei schiesßt auf demonstrierende Studenten, der Geheimdienst sitzt vor den Büros neuer politischer Gruppen, einer ihrer Aktivisten wurde vor zehn Tagen in Kabul auf offener Straße von einem Motorrad aus niedergeschossen, nachdem seine Organisation vom Geheimdienst aufgefordert worden war, in ihrer Zeitung Fackel der Demokratie mehr Zurückhaltung zu üben.
John Sifton von der Menechenrechtsorganisation Human Rights Watch, der gerade einen viel beachteten Bericht über die westafghanische Stadt Herat mit verfasste, meint, die Lage dort sei „nicht sehr anders als unter den Taliban“. Asma Jehangir, UN-Sonderberichterstatterin über außerlegale Hinrichtungen, konstatierte nach einem Besuch im Oktober eine „Atmosphäre der Angst“ außerhalb Kabuls. Selbst Justizminister Karimi gibt zu, dass die „Rechtsprechung“ dort oft den Warlords obliegt. Und Adela Bahram, die unter den Taliban illegale Schulen organisierte und nun die Frauenorganisation der neuen Republikanischen Partei leitet, sagt, dass trotz offener Schulen selbst in Kabul viele Mädchen aus Furcht vor Übergriffen lieber zu Hause blieben.
Die Tür für diese Entwicklung wurde schon vor einem Jahr geöffnet, als Washington der Nordallianz grünes Licht für ihr Einrücken in Kabul noch vor der ersten Petersberger Konferenz ab. Aus dieser Position der Stärke heraus verschaffte sie sich in Bonn die Dominanz in der Übergangsadministration Karsais. Der Abzug aller Milizen aus Kabul blieb eine Floskel auf gesiegeltem Vertragspapier. Die UNO schluckte das genauso wie den Fakt, dass die Warlords ihre Milizen nicht, wie vereinbart, „unter das Kommando und die Kontrolle der Interimsverwaltung“ stellten. Wie sollte sie auch anders: Washington bezahlte sie ja als Hilfstruppen gegen al-Qaida und die Rest-Taliban mit 70 Millionen Dollar allein in den ersten Kriegswochen, wie Bob Woodward von der Washington Post gerade beschrieb.
Der Aufbau der nationalen Armee geht nur im Schneckentempo voran, weil Warlords wie Verteidigungsminister „Marschall“ Qasem Fahim ihn sabotieren. Die Unabhängige Verfassungskommission wurde statt Ende August erst Anfang November einberufen. Die UNO, vom Bonner Afghanistan-Abkommen mit der Aufsicht über den Friedensprozess betraut, sah dem ebenso tatenlos zu wie dem Treiben der Kommission für Gesetzesreform, die unter dem Einfluss der Fahim-Gruppe mit Staatsbediensteten überfrachtet wurde und monatelang untätig herumsaß, bis sie Anfang November schließlich neu gebildet werden musste. Dabei sind beide Gremien das Kernstück in der Nach-Loja-Dschirga-Phase des Friedensprozesses. Sie entscheiden, ob Afghanistan sich hin zu einer offeneren Gesellschaft bewegt, wie sie eine übergroße Mehrheit der Afghanen wünscht, oder erneut unter ein islamistisches Regime fällt, wie es in den Provinzen schon entsteht.
Schließlich ist trotz Milliarden-Zusagen der Wiederaufbau nicht sichtbar angelaufen. Mit arbeitsintensiven Projekten müssten gerade die waffenfähigen Jahrgänge aus den Milizen der Warlords ins legitime Erwerbsleben zurückgeholt werden. Hier schließt sich ein Teufelskreis: Ohne Arbeitsbeschaffung für Kalaschnikow-Träger keine sinnvolle Demobilisierung der Milizen, ohne Demobilisierung keine Sicherheit, ohne Sicherheit keine Hilfsgelder. Durchbrechen kann ihn nur der Westen: „Investieren in Sicherheit durch Wiederaufbau“ müsste die Devise lauten. Das kann man nach dem 11. September auch dem Steuerzahler klar machen.
Gleichzeitig sollte man nicht der Forderung nachgeben, die Aufbauhilfe ausschließlich durch die Kabuler Administration zu leiten. Sie ist mit Warlords gespickt, und afghanische Nichtregierungsorganisationen sprechen von ausufernder Korruption.
Völlig vernachlässigt wird im Westen, dass der in Bonn angemahnte demokratische Rahmen auch lebensfähige demokratische Akteure braucht. Unterstützung für die neuen politischen Gruppen– wie einst für die Opposition in Osteuropa – blieb bisher fast völlig aus. Das wäre eigentlich eine Aufgabe für politische Stiftungen. Tritt hier nicht schnellstens ein Umdenken ein, werden es die nach wie vor gut versorgten Fundamentalisten dem Westen bei den Wahlen 2004 danken.
Alle diese Probleme müssten eigentlich heute, bei der zweiten Petersberger Konferenz, diskutiert werden, zumal die internationale Gemeinschaft selbst ein gerüttelt Maß an Verantwortung dafür trägt. Aber auf dem kurzen Treffen wird nicht viel Tiefe zu erreichen sein. Zu kurz war die Vorbereitungszeit für die „Arbeitsebene“ in Washington, London oder Berlin, zu schnell rotieren hier in Kabul die Diplomaten der wichtigsten Staaten, als dass ihre Analyse wirklich unter die Oberfläche dränge, zu streng sind ihre Sicherheitsauflagen angesichts der nadelstichartigen Raketenüberfälle, deren Unheber niemand wirklich kennt, als dass sie viel mehr als Kabul zu sehen bekämen. „Die Briten werden dir mit unbewegtem Gesicht erzählen, was für ein guter Kerl er inzwischen geworden ist“, berichtet Guardian-Reporterin Polly Toynbee über Minister Fahim, der kraft seines Amtes den Einfluss seiner Fraktion, des inneren Kreises der Nordallianz aus dem Pandschibtal, Provinz für Provinz ausweitet und die Diplomaten derweil mit demokratischen Floskeln beruhigt. Oppositionelle mit Zugang zu seinem inneren Kreis berichten, dass dort ganz andere, antiwestliche Töne herrschen.
Eigentlich hätte Karsai also nicht nach Bonn kommen müssen. Denn dass die internationale Schutztruppe Isaf weder hinlänglich aufgestockt noch ihr Mandat über Kabul hinaus erweitert wird, konnte er sich schon von Außenminister Fischer letzte Woche in Kabul anhören. Und dass die USA jetzt 170 zusätzliche Civil-Affairs-Spezialisten, gemischt mit kleinen Kontingenten von Kampftruppen, in ein paar andere Städte schicken wollen, ist nur Augenwischerei.
So bleibt nur eines zu hoffen: dass die Spitzendiplomaten wenigstens so viel Einsicht haben, ihre Arbeitsebenen schleunigst nach dem Ende der heutigen Konferenz zu aktivieren. Es ist spät, aber nicht zu spät.
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