: Auch Barbarossa kannte den Dreh
von RALPH BOLLMANN
Wirklich traurig schien die Union gestern nicht zu sein, dass ihr geplanter Untersuchungsausschuss mit dem schönen Namen „Vorsätzlicher Wahlbetrug“ vorerst nicht zustande kommt. Kaum hatte die SPD angekündigt, das Gremium erst einmal auf seine Verfassungsmäßigkeit abklopfen zu wollen, da schwang sich der Chor der CDU-internen Kritiker schon zu einem neuerlichen Crescendo auf. „Was soll herauskommen?“, fragte Expräsident Richard von Weizsäcker. Und der Rechtspolitiker Horst Eylmann gab zu bedenken, auch früher hätten es die Politiker mit der Wahrheit nicht immer so genau genommen. Er belegte seine Erkenntnis mit einem Bismarck-Zitat: „Es wird nie mehr gelogen als vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“
Wohl wahr. Mit dem feinen Unterschied allerdings, dass die Lügen des ersten Reichskanzlers im Krieg weit erfolgreicher waren als bei Wahlen. Den Deutsch-Französischen Krieg brachte Bismarck 1870 wunschgemäß zum Ausbruch, indem er die königliche Antwort auf ein Pariser Ultimatum durch bloße Kürzung drastisch verschärfte. Doch konnten Bismarcks Täuschungskünste nicht verhindern, dass der konservative Politiker lange Zeit ohne eigene Reichstagsmehrheit regieren musste.
Der Vorwurf, Wahlversprechen zu brechen, blieb an den im Reichstag vertretenen Parteien hängen. So wollten etwa die Nationalliberalen vor der vorgezogenen Reichstagswahl des Jahres 1878 dem Sozialistengesetz um keinen Preis zustimmen. Kaum hatten Bismarcks Konservative einen fulminanten Wahlsieg eingefahren, fielen die dezimierten Nationalliberalen um – und stimmten der Einschränkung liberaler Freiheitsrechte zu.
Das Image, eine Partei der „Umfaller“ zu sein, haftet den deutschen Liberalen bis heute an – auch wenn FDP-Chef Guido Westerwelle die Untersuchung zum Thema „Wahlbetrug“ mit besonderer Vehemenz vorantreibt. Es war vor allem die Bundestagswahl 1961, die den Glauben an liberale Standfestigkeit ein für alle Mal erschütterte. Das Wahlversprechen, beim christdemokratischen Koalitionspartner eine Ablösung Konrad Adenauers zu erzwingen, bescherte der FDP mit 12,8 Prozent das beste Ergebnis aller Zeiten. Zwei Monate später wählte sie den greisen Kanzler wieder ins Amt.
Wahlversprechen werden gebrochen, seit es Wahlen gibt – und das nicht nur in der Demokratie, sondern auch bei totalitären Plebisziten oder den Kaiserwahlen im römisch-deutschen Reich. Die Menschen wollten sich geradezu „betrügen lassen“, befand schon Machiavelli, so sehr gehorchten sie „dem Eindruck des Augenblicks“. Und in vielen Fällen erwies es sich sogar als vorteilhaft, wenn Politiker ihre Wahlparolen nicht eins zu eins in Taten umsetzten. Oder wäre es wirklich besser gewesen, Ludwig Erhard bereits 1961 zum Kanzler zu wählen – wo sich der erfolgreiche Wirtschaftsminister doch früh genug als heillos überforderter Allgemeinpolitiker erweisen sollte?
Wahrscheinlich wären die Probleme der Rentenversicherung heute noch viel größer, hätte nicht schon Helmut Schmidt gleich nach seiner Wiederwahl 1976 den legendären „Rentenbetrug“ begangen. Von der versprochenen Rentenerhöhung um sagenhafte 9,9 Prozent blieb damals nur knapp die Hälfte übrig. Und die deutsche Einheit wäre 1990 weit schwerer durchzusetzen gewesen, hätte Helmut Kohl nicht „blühende Landschaften“ versprochen.
Doch die nicht gehaltenen Versprechen demokratischer Politiker nehmen sich harmlos aus im Vergleich zu den unerfüllbaren Zusagen, die Deutschlands Wahlkaiser einst den sieben Kurfürsten machten. So musste der Habsburger Karl V. mit Hilfe Jakob Fuggers des Reichen immerhin 850.000 Gulden an Bestechungsgeldern aufbringen, um das Gremium gefügig zu machen. In einer umfangreichen „Wahlkapitulation“ versprach der künftige Herrscher unter anderem, seine Residenz in Deutschland zu nehmen. Doch nach der Wahl hielt sich Karl vorzugsweise in seinen spanischen Besitzungen auf und lästerte unverblümt, die deutsche Sprache sei „vorzüglich geeignet, um mit Feinden zu reden“. Nur das Geld aus dem Fugger-Kredit wurde tatsächlich ausgezahlt. Es trug dazu bei, die Reichsfinanzen zu ruinieren.
Zu unlauteren Mitteln hatte schon der Stauferkaiser Friedrich Barbarossa gegriffen, den die nationalistische Geschichtsschreibung so gern als edelmütigen Herrscher verklärte. Um seine Wahl im Jahr 1152 abzusichern, musste Barbarossa dem Papst die Wahrung seiner Interessen zusichern und seinem Vetter Heinrich dem Löwen das Herzogtum Bayern versprechen. Kaum gewählt, betrieb Barbarossa einen rücksichtslosen Kampf gegen die Gebietsansprüche des Papsts in Italien. Und das Herzogtum Bayern wurde dem Welfen 1180 wieder aberkannt, weil er es gewagt hatte, sich dem kaiserlichen Machtanspruch zu widersetzen.
Wofür Barbarossa immerhin 30 Jahre brauchte, das schaffte Napoleon innerhalb eines Tages: So schnell wie der Franzose hat wohl noch kein Herrscher seine Zusagen gebrochen. Noch am 9. November 1799, dem „18. Brumaire“, versprach er dem „Rat der Alten“ hoch und heilig: „Wir wollen eine Republik, die auf der wahren Freiheit, auf der Bürgerfreiheit, auf der Vertretung der Nation beruht.“ Schon am nächsten Tag ließ er ebenjene Vertretung der Nation von Soldaten auseinander treiben. Fünf Jahre später machte er der Republik auch offiziell ein Ende: 1804 krönte er sich selbst zum Kaiser der Franzosen.
Immerhin versuchten die meisten Wahlbetrüger der Geschichte, ihr Vorgehen einigermaßen zu bemänteln. Nicht so die deutschen Sozialdemokraten, die 1928 ein besonderes Kunststück zuwege brachten. Dass eine SPD-geführte Regierung den Bau des „Panzerkreuzers A“ beschloss, obwohl die Partei ihre Wahlkampagne ganz auf den Kampf gegen das Projekt ausgerichtet hatte, bewegte sich noch im Rahmen des Üblichen. Ganz und gar ungewöhnlich verlief jedoch die anschließende Abstimmung im Reichstag: Auf Druck der eigenen Basis mussten die SPD-Minister ebenjenen Antrag ablehnen, den sie am Kabinettstisch selbst beschlossen hatten.
Solche Manöver trugen dazu bei, die Weimarer Republik weiter zu schwächen und Adolf Hitler den Weg zu ebnen. Er sollte sich als einziger Herrscher erweisen, der sein Wahlprogramm mit unmenschlicher Konsequenz erfüllte.
Schon im Jahr 1919 hatte Hitler für einen „Antisemitismus der Vernunft“ plädiert, dessen „letztes Ziel“ die „Entfernung der Juden überhaupt“ sein müsse. In „Mein Kampf“ versprach er: „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein.“ Leider wird niemand behaupten können, dass Hitler sich nicht mit aller Kraft für die Verwirklichung dieser Ziele eingesetzt hätte.
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