: Die Verhinderung von Politik
Israels Regierung stellt ihre Palästinapolitik als Teil des Kampfes gegen den Terror dar. Tatsächlich will sie die Ergebnisse des Nahost-Friedensprozesses radikal umkehren
„Wenn ich Palästinenser wäre, würde ich heute in den Reihen der Hamas kämpfen“, sagte Ehud Barak im Jahre 1998. Der markige Satz brachte ihm vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten in Israel natürlich eine gehörige öffentliche Schelte ein. Bei den heutigen palästinensischen Schülern scheinen Baraks Worte dagegen auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Ein Filmbericht aus einer Schule in einem Flüchtlingslager bei Ramallah, der unlängst im deutschen Fernsehen lief, zeigte Schüler im Alter von 8 bis 12 Jahren, deren martialische Zeichnungen von „Märtyrern“ nur eines verkündeten: uneingeschränkte Sympathie für die islamistischen Gruppierungen Hamas und Islamischer Dschihad. Von Arafats PLO war keine Rede. Derselbe Film präsentierte auch Schüler einer jüdischen Siedlung bei Ramallah, die – beim Auftauchen der Kamera – spontan den Slogan „Tod den Arabern“ skandierten. Momentaufnahmen einer hundertjährigen Tragödie.
Vor knapp zwei Jahren ist Ariel Scharon angetreten, um die „Infrastruktur des Terrors“ auszumerzen. Tausende hat er inhaftieren, hunderte exekutieren lassen. Die israelische Besatzungsarmee hat unzählige Strafexpeditionen unternommen – zuletzt sinnigerwiese am heiligen islamischen Fest Eid al-Fitr am Ende des Ramadan –, dutzende von Häusern gesprengt, Flüchtlingslager mit Bulldozern eingeebnet, das Hauptquartier von Autonomiepräsident Jassir Arafat plattgemacht, palästinensische Ministerien, Schulen, Rundfunkgebäude und andere öffentliche Einrichtungen in Schutt und Asche gelegt, Städte und Dörfer durchkämmt und abgeriegelt, Industrieanlagen bombardiert und die Mehrheit der Palästinenser in Existenznot und Armut gestürzt.
Das Ergebnis dieser Politik kann selbst aus israelischer Sicht nur als niederschmetternd bezeichnet werden. Erst im vergangenen Monat gelang es drei Attentätern der Organisation Islamischer Dschihad in Hebron, neun Soldaten und drei Sicherheitskräfte zu töten – ein Debakel für Israels Armee. Nur Tage später erschossen palästinensische Selbstmordattentäter sechs Israelis vor einem Wahlbüro der Likud-Partei von Ariel Scharon. Der Anschlag im Ferienort Mombasa legt überdies die Vermutung nahe, dass sich nun auch al-Qaida des symbolträchtigen Kampfes gegen Israel angenommen hat. Was Scharon immer wieder von Arafat gefordert hat, hat er selbst nicht zustande gebracht: die Zerschlagung der islamistischen Untergrundgruppen sowie die Beendigung des militärischen Kampfes und der Selbstmordanschläge auf israelischem Gebiet. Mit der Zerstörung der Autonomiebehörde und der Delegitimierung Arafats hat sich Scharon seines palästinensischen Verhandlungspartners beraubt. Das muss er auch, wenn er seinen „Friedensplan“ durchsetzen will. 42 Prozent des Westjordanlandes und 75 Prozent des Gaza-Streifens hat er für einen „palästinensischen Staat“ reserviert. Ein „palästinensisches Bantustan“ auf gerade einmal zehn Prozent des historischen Staatsgebiets Palästinas dürfte nicht einmal Scharon als „gerechte Lösung“ des Palästinakonflikts verkaufen können.
Israel führt heute einen territorialen Siedlerkrieg, der dem französischen Kolonialkrieg in Algerien in den Jahren 1958–62 auf fatale Weise ähnelt. Der exzessiven Gewaltanwendung der Kolonialmacht steht ein ebenso barbarischer Krieg der Befreiungsbewegung gegenüber. Dennoch existiert heute im Vergleich von Israel mit Frankreich ein wesentlicher Unterschied: Frankreich hatte nie die Option, Millionen von Algeriern zu vertreiben. In Israel wird dies zumindest diskutiert. Die israelische Rechte fordert Vertreibungen analog zur „Lösung des Palästinaproblems“ im Jahre 1948 und dem Sechstagekrieg von 1967. Damals wurden mehr als eine Million Palästinenser ihrer Heimat beraubt. Ein US-geführter Krieg gegen den Irak könnte nun – zumal bei einem irakischen Angriff auf Israel – den gewünschten Vorwand für einen weiteren „Transfer“ von Palästinensern liefern. Führer der israelischen Siedler spekulieren offen über den „großen Krieg“, in dem „die Araber abhauen“.
Der israelischen Regierung ist es – zumindest gegenüber den Regierenden in den USA und Deutschland – propagandistisch gelungen, ihren Eroberungs- und Rachefeldzug gegen die Palästinenser als Teil des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus auszugeben. Dabei ist dieser Vergleich ebenso vordergründig wie irreführend. Das Ziel aller Befreiungsbewegungen ist historisch die nationale Souveränität – nicht etwa die Weltherrschaft oder die Zerstörung einer Weltmacht. Und jede nationale Bewegung – die zionistische im Besonderen – bediente sich im Laufe ihrer Geschichte terroristischer Methoden. Eine Besatzungsmacht, die sich der Mittel wie Bombardierungen und Exekutionen, Landnahme und willkürlichen Enteignung, Zerstörung von Häusern und Vernichtung von Ernten bedient, kann schwerlich eine zivile Form des Widerstands erwarten.
Es ist eben kein Zufall, dass die Selbstmordattentate der Hamas erst einsetzten, nachdem der israelische Arzt und Siedler Baruch Goldstein im Jahre 1994 29 Muslime in der Abraham-Moschee ermordete und die israelische Armee im Verlauf der folgenden Proteste noch einmal mehr als 20 Palästinenser tötete. Auch die zweite Intifada brach erst aus, nachdem israelische Polizei und Armee am zweiten Tag nach Scharons Besuch auf dem Tempelberg unter exzessivem Schusswaffengebrauch 20 Palästinenser tötete. Es sind nicht die Palästinenser, die aus Israel abziehen müssen, um einen Frieden zu ermöglichen. Es sind auch nicht die Palästinenser, die Siedlungen auflösen müssten, um illegale Eroberungen und Landnahmen rückgängig zu machen. Und schließlich sind es auch nicht die Palästinenser, die willentlich und fortdauernd Resolutionen des UN-Sicherheitsrates ignorieren und die internationale Gemeinschaft düpieren.
Nicht nur orthodoxe, ultranationalistische und rechtsradikale israelische Parteien – auch Ariel Scharon, Benjamin Netanjahu und Mosche Mofaz hatten nie etwas anderes im Sinn, als die Verträge von Camp David zu Fall zu bringen. Regierungskrisen und Neuwahlen waren dabei noch stets ein probates Mittel der israelischen Politik, um sich aus der politischen Verantwortung zu stehlen. Netanjahu nutzte es, als er das Wye-River-Abkommen von 1998 über einen vertraglich zugesagten Teilrückzug der Armee in seiner Koalition nicht durchsetzen konnte. Barak nutzte es, als er die Einigung von Taba im Herbst 2000 nach dem gescheiterten Gipfel von Camp David seiner Koalition nicht erklären konnte oder wollte. Und Scharon nutzt dieses Mittel jetzt, um die Pläne der internationalen Gemeinschaft zur Gründung eines palästinensischen Staates, wie ihn das Nahost-Quartett aus USA, EU, Russland und UNO vorgeschlagen hat, zu Fall zu bringen. Israels Machtelite wartet heute auf eine Chance, die Ergebnisse des Nahost-Friedensprozesses endgültig zunichte zu machen. Dabei könnte sich ein Krieg der Vereinigten Staaten gegen den Irak als durchaus hilfreich erweisen. GEORG BALTISSEN
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