: Nur der Dissens zählt
Bundesverfassungsgericht wertete das Votum Brandenburgs als „uneinheitlich“ und damit ungültig
aus Karlsruhe CHRISTIAN RATH
„Das ist ja unglaublich! Das ist glatter Rechtsbruch“, schnaubte Hessens Ministerpräsident Roland Koch vor neun Monaten im Bundesrat. Damals hatte gerade Sitzungsleiter Klaus Wowereit, Berlins Regierender Bürgermeister, das turbulente Brandenburger Votum als Jastimme für das Zuwanderungsgesetz gewertet und damit die Zustimmung des Bundesrats festgestellt. Jetzt haben Koch und fünf andere Ministerpräsidenten der CDU/CSU beim Bundesverfassungsgericht Recht bekommen. Allerdings hätte das Urteil genauso gut andersherum ausfallen können. Insofern müssen Rot-Grün und Klaus Wowereit den Vorwurf des Verfassungsbruchs nicht ganz so tragisch nehmen. Sie versuchten, an die Grenze des Zulässigen zu gehen, aber erst jetzt ist verbindlich geklärt, wo diese Grenze eigentlich verläuft.
„Der Bundesratspräsident durfte die Stimmabgabe für das Land Brandenburg nicht als Zustimmung werten“, erklärte gestern die Mehrheit der acht Richter des zuständigen Zweiten Senats und verwies auf das Grundgesetz. „Die Stimmen eines Landes können nur einheitlich abgegeben werden“, heißt es dort in Artikel 51. Bei widersprüchlichen Voten sei die Stimme des Landes deshalb nicht mitzuzählen.
Dabei kam es der Richtermehrheit um den konservativen Berichterstatter Udo Di Fabio ausschließlich auf die ersten beiden Antworten an – als Brandenburgs damaliger Sozialminister Alwin Ziel (SPD) „Ja“ rief und Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) „Nein“. Alles Weitere sei „nicht mehr rechtserheblich“, heißt es im gestrigen Urteil. Keine Rolle spielte für das Gericht damit, dass Brandenburgs einstiger Ministerpräsident Manfred Stolpe auf die Nachfragen Wowereits zweimal mit Ja antwortete und Schönbohm am Ende seinen Widerspruch aufgab.
Im vorliegenden Fall habe Wowereit, so die Richtermehrheit, nämlich gar kein Recht zur Nachfrage gehabt. „Nur bei Unklarheiten im Abstimmungsverhalten“ dürfe ein unparteiischer Sitzungsleiter auf eine wirksame Stimmabgabe hinwirken. Im Falle des Zuwanderungsgesetzes sei dagegen klar gewesen, dass die Brandenburger Delegation keinen „einheitlichen politischen Landeswillen“ äußern konnte und eine Beseitigung des Dissenses im Verlauf der Sitzung auch nicht mehr zu erwarten war.
Ganz wohl war der Richtermehrheit bei diesem Argument allerdings nicht, schließlich ist die bloße Unklarheit manchmal nur durch Nachfrage vom dauerhaften Dissens zu unterscheiden. Deshalb schob das Gericht als zweites Argument noch einen weiteren Vorwurf an Wowereit nach: Er hätte sich bei seiner Nachfrage nicht nur an Stolpe wenden dürfen, sondern zumindest auch Schönbohm fragen müssen.
Das von den beiden Richterinnen im Senat – Gertrude Lübbe-Wolff und Lerke Osterloh – unterschriebene Minderheitsvotum des Bundesrates kam zu anderen Schlüssen. Zwar gehen auch sie davon aus, dass die Brandenburger Stimmabgabe „zunächst“ uneinheitlich war. Jedes Land habe aber bis zum Schluss die Möglichkeit, sein Stimmverhalten zu korrigieren. Und dies sei durch Stolpes Ja-Voten auch geschehen. Schönbohms Zwischenruf: „Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!“, sei unerheblich gewesen, weil die Abstimmung nach Stimmen und nicht nach Auffassungen frage. Man könne nicht jede „unkonventionelle Äußerung“ als Stimmabgabe werten, argumentieren die RichterInnen feinsinnig, sonst „wäre des Deutens kein Ende“.
Mit welcher Mehrheit die Entscheidung im Verfassungsgericht konkret gefallen ist, ließ Senatspräsident Winfried Hassemer ausdrücklich offen. Klar ist nur, dass mindestens fünf der acht Richter für die Unions-Klage gestimmt haben müssen, denn bei Stimmmengleichheit wäre der Antrag gescheitert. Wahrscheinlich gehört sogar Hassemer selbst zur linken Minderheit, wobei die nach außen unklare Situation zwei Vorteile hat: Einerseits kann Hassemer so nach außen und innen besser repräsentieren und integrieren. Zum anderen schützt die Camouflage auch Bertold Sommer, den vermutlichen Abweichler unter den vier von der SPD nominierten Richtern, vor allzu vielen kritischen Nachfragen.
Nachfragen gibt es nun natürlich auch bei Klaus Wowereit. Die Berliner CDU forderte gestern postwendend seinen Rücktritt als Regierender Bürgermeister, was dieser jedoch zurückwies. Tatsächlich haben Wowereit und die SPD-Strategen nur versucht, den einzigen Präzedenzfall aus dem Jahr 1949 möglichst exakt nachzuspielen. Damals hatte der CDU-Ministerpräsident Karl Arnold auf Nachfrage einen Dissens zweier Minister entschieden. Möglicherweise hat der CDU-Mann 1949 aber auch das Grundgesetz verletzt.
Besonders große Bedeutung für den Föderalismus wird die gestrige Entscheidung wohl nicht haben. Die Richtermehrheit hat darauf geachtet, dass sich in der täglichen Praxis des Bundesrats möglichst wenig ändern muss. So dürfen die Mitglieder intern auch weiterhin für jedes Land einen Stimmführer bestimmen, der die Voten im Block abgibt. Es ist also nicht erforderlich, dass immer alle Sitze eines Landes auch besetzt sind. Klargestellt ist nur eines: Sobald ein anderer Vertreter des gleichen Landes widerspricht, ist das Landesvotum ungültig. Nach der Statistik ist mit dem nächsten Anwendungsfall allerdings erst in etwa fünfzig Jahren zu rechnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen