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Ein Puzzle aus blauen Pillen

Bis zum 31. März können Opfer des Dopings im DDR-Sport Anträge auf finanzielle Hilfeleistungen stellen. Die ehemalige Kugelstoßerin Birgit Boese steht ihnen dabei mit Rat und Tat zur Seite

von FRANK KETTERER

Manchmal hat die Arbeit von Birgit Boese etwas von der eines Detektivs. Sie sammelt Fakten und Daten, setzt sie zusammen und dröselt sie wieder auseinander – und im besten Falle ergibt das am Ende ein Bild, aus kleinen Steinchen zusammengepuzzelt wie ein Mosaik, und man kann von diesem Bild dann „die Wahrscheinlichkeit oder die Unwahrscheinlichkeit“ herauslesen, „ob jemand gedopt wurde, sowohl mit als auch ohne sein Wissen“, so jedenfalls erklärt das Birgit Boese.

Manchmal hat die Arbeit der 40-Jährigen etwas von der einer Kummerkastentante. Sie sitzt dann in ihrem nüchtern eingerichteten Büro hinter ihrem Amtstubenschreibtisch und hört einfach nur zu, ganz egal, ob die Menschen persönlich vorbeikommen und ihr von ihrem Schicksal erzählen oder ob sie das per Telefon tun. Oft, meist sogar, eigentlich immer, sind es traurige Geschichten, die die Menschen Frau Boese erzählen. Geschichten von kleinen blauen Pillen, die sie als Kinder verabreicht bekommen haben, und von denen sie damals, als die DDR noch eine der führenden Sportnationen der Welt war, nicht wussten, dass es sich um Doping handelte, sie waren ja noch Kinder, und dass dieses Doping sie oder ihre Kinder eines Tages, heute also, zu kranken Menschen machen würde. Es sind die Geschichten der so genannten Dopingopfer, und oft ist Frau Boese, die Kummerkastentante, der erste Mensch überhaupt, mit dem diese Opfer über ihre Leiden, ihre Sorgen, Ängste und Nöte sprechen, sich zu sprechen getrauen.

Viele schämen sich

„Viele“, sagt Birgit Boese, die die Berliner Beratungsstelle für Dopingopfer leitet, „schämen sich für ihre Probleme.“ Weil dabei Inneres nach Außen gekehrt wird und unter Umständen selbst Intimstes nicht unausgesprochen bleibt. Im schlimmsten Fall geht es dann um Schwangerschaftsstörungen und Fehlgeburten, um Erkrankungen der Sexualorgane, Unfruchtbarkeit, um Männer, denen Brüste gewachsen sind, und manchmal geht es sogar um Fehlbildungen bei den Kindern der ehemaligen Sportler. „Es ist wichtig, dass die Menschen Vertrauen zu mir fassen“, sagt Birgit Boese. Denn ohne Vertrauen könnten sie über all diese Dinge nicht mit Frau Boese reden.

Manche wussten bis vor kurzem noch gar nicht, dass sie auch dazugehören – zu den Dopingopfern. Manche sind sich da auch heute nicht ganz sicher, sondern haben lediglich so eine Ahnung, ein ungutes Gefühl. Weil auch sie früher, zu DDR-Zeiten, leistungsmäßig Sport getrieben haben und weil auch sie heute an Symptomen leiden, bei denen man davon ausgeht, dass sie vom Doping herrühren können. „Ein Großteil der ehemaligen Sportler stellt sich die Frage: Bin ich davon betroffen oder nicht?“, sagt Birgit Boese. Und sie sagt auch, dass viele der betroffenen Frauen und Männer das Thema, diese brennende Frage, all die Jahre in den Hintergrund gedrängt hätten – „zum Selbstschutz“.

Und aus Angst. Aus Angst vor weiteren, vielleicht noch eintretenden körperlichen Schäden. Aus Angst vor Öffentlichkeit. Aus Angst, bei der Krankenkasse, wenn sie davon erfährt, als „schwerstgeschädigt“ eingestuft zu werden und höhere Beiträge bezahlen zu müssen. Oder aus Angst, einen Teil ihres Lebens zu verlieren.

„Manchen Sportlern bricht die Jugend weg“, sagt Birgit Boese, „weil sie plötzlich erkennen, dass man damals, in ihrer Kindheit, nicht sie als Mensch gewollt hat, sondern nur ihren Körper.“ Dass sie Versuchskaninchen waren, an denen Ärzte, im Auftrag des Staates, herumexperimentieren durften mit ihren leistungssteigernden Pillen, obwohl sie schon damals wussten, welche Schäden die Sportler einmal davontragen könnten. „Man wird seines Fundaments beraubt“, sagt Birgit Boese, die das am eigenen Leib erfahren hat, auch sie, die ehemalige Kugelstoßerin, ist ein Dopingopfer. Auch sie wollte es nicht glauben, als sie das erste Mal damit konfrontiert wurde. „Auch ich“, sagt diese große, korpulente Frau, „habe gedacht: Das können die doch nicht wirklich mit dir getan haben.“

Etwa tausend Opfer

Sie, die Sportfunktionäre, Trainer und Politiker der DDR, konnten, wie man längst weiß. Und wie mittlerweile sogar die gesamtdeutsche Politik anerkannt hat. Zwei Millionen Euro hat die Bundesregierung in diesem Jahr als Hilfeleistung für jene zur Verfügung gestellt, die „erhebliche Gesundheitsschäden erlitten haben, weil Ihnen als Hochleistungssportler/in oder Nachwuchssportler/in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ohne Ihr Wissen oder gegen Ihren Willen Dopingsubstanzen verabreicht worden sind“, wie es im Hinweisblatt des Kölner Bundesverwaltungsamtes heißt. Bis 31. März nächsten Jahres können Dopingopfer „Anträge auf Zahlung einer Hilfe nach dem DOHG“, dem Dopingopfer-Hilfe-Gesetz, stellen. Ausgehend von „relativ wahrscheinlich“ (Boese) 1.000 Dopingopfern, ergäbe dies pro Fall gerade Mal 2.000 Euro.

„Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Dr. Klaus Zöllig, Vorsitzender des Vereins für Dopingopfer-Hilfe, dem das Bundesinnenministerium die Leitung der Beratungsstelle angetragen hat „Viele sagen: Ich bettle nicht um 2.000 Euro für das, was uns angetan wurde“, pflichtet ihm Birgit Boese bei. Vielleicht haben sich – neben all der Verdrängung aus Selbstschutz – auch deshalb erst 160 ehemalige Sportler für ein Beratungsgespräch bei Frau Boese gemeldet. Beim Bundesverwaltungsamt in Köln, das über die Anträge entscheidet, sind bis Ende des Jahres gar erst fünf Anträge eingegangen. Wie viele es bis Ablauf der Frist Ende März sein werden, lässt sich derzeit nicht prognostizieren.

„Die Hauptsorge bei den meisten Opfern ist ohnehin nicht, wie viel Geld sie bekommen und wann das sein wird“, sagt Birgit Boese. Das Hauptproblem sei vielmehr, „diesen letzten Schritt zu gehen“, diesen Schritt, sich endgültig und unumstößlich einzugestehen: Ja, die haben mich gedopt. Ja, ich bin ein Dopingopfer. „Erst dann kann man damit beginnen, die Vergangenheit aufzuarbeiten“, weiß Birgit Boese aus eigener Erfahrung. „Ich will den Menschen dabei helfen, ihnen zur Seite stehen“, sagt sie. Seit sie Anfang August in ihrem kleinen, kargen Büro auf dem Gelände des Berliner Olympiastadions in der Friedrich-Friesen-Allee, der Beratungsstelle für Dopingopfer, sitzt, ist das ihr Job. Fünf bis sechs Beratungen, meist über mehrere Stunden, sind nötig, um eine Art Raster zu erstellen, das Puzzle, aus dem dann ersichtlich wird, ob jemand Opfer ist oder nicht.

Für jene, die sich dazu entschließen, die Wahrheit zu erfahren oder ihre düsteren Ahnungen bestätigt zu bekommen, ist es eine Reise in die eigene Vergangenheit: Bei welchem Verein haben sie einst trainiert? Bei welchem Trainer? Von was bis wann war das genau? Welche sportlichen Erfolge hatten sie vorzuweisen? In welchen Kaderkreis haben sie es damit geschafft? Wann traten die ersten gesundheitlichen Beschwerden auf, und welcher Art waren und sind sie? Fragen wie diese gilt es zu erörtern, möglichst lückenlos, näher ins Detail möchte Frau Boese nicht gehen, wegen der möglichen Trittbrettfahrer.„Man merkt recht bald, ob jemand seine Geschichte nur erfunden oder ob er sie wirklich erlebt hat. Das fällt auf, wenn man ein paar Dinge abklopft“, sagt Birgit Boese.

Manche Opfer kommen mit Urkunden und anderen Akten unterm Arm, zum Beispiel ihrem Gesundheitsbuch, in dem sich nicht selten Hinweise auf die Dopingvergabe finden, es wurde ja alles aufgeschrieben und wissenschaftlich dokumentiert im DDR-Sport, man muss das Geschriebene nur richtig zu lesen und zu deuten wissen. Anderen, denen die Akten nach ihrer aktiven Zeit nicht übergeben wurden, hilft Frau Boese diese zu erhalten. Oft lagern sie noch in den Archiven der jeweiligen Vereine, viele auch bei der ZERV, der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität. Und immer geht es letztendlich um die Fragen: Was haben die Sportler an Mitteln bekommen? Welche Wirkungen hatte es und welche Folgen? Vor allem aber: Welche Schäden sind mit großer Wahrscheinlichkeit auf Doping zurückzuführen? „Man kann nicht sagen, dass jeder, der Doping bekommen hat, heute schwerstgeschädigt ist“, gibt auch Birgit Boese zu. Und keineswegs müssten alle Schäden, mit denen sich ehemalige DDR-Sportler heute herumplagen, von den kleinen blauen Pillen herrühren.

Deshalb muss jedem Antrag auf Entschädigung, der beim Kölner Bundesverwaltungsamt eingeht, ein fachärztliches Gutachten beigelegt werden. Doch selbst dies gestaltet sich bisweilen kompliziert. „Es gibt ja wenig Studien dazu“, sagt Birgit Boese, und somit im wissenschaftlichen Sinne kaum hundertprozentige Gewissheit darüber, ob eine bestimmte Schädigung tatsächlich durch die Einnahme von Doping hervorgerufen wurde. Zwar genügt dem Gesetzgeber „zur Anerkennung eines erheblichen Gesundheitsschadens“ schon „die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs mit der Verabreichung von Dopingsubstanzen“, wie es im Gesetzestext heißt, doch selbst damit, so Dr. Klaus Zöllig, selbst Sportmediziner, tun sich viele seiner Kollegen schwer. „Viele Ärzte scheuen sich davor“, sagt der Vorsitzende des Vereins für Dopingopfer-Hilfe; gerade Kollegen in der ehemaligen DDR betrachteten es ohnehin als „Humbug, wenn Dopingopfer Gutachten verlangen. Für die gibt es das heute noch nicht“, sagt Zöllig. Andere Kollegen wiederum sähen sich schlichtweg nicht in der Lage dazu, ein solches Gutachten zu erstellen, wie gesagt: es gibt kaum Erfahrungswerte, wenig Studien.

Frau Boese und ihre Beratungsstelle helfen auch dabei: Den Opfern Mediziner zu vermitteln, die sich in der Materie auskennen und sich anhand all der gesammelten Unterlagen und Fakten in der Lage sehen, Gutachten zu erstellen, um schließlich den Antrag beim Bundesverwaltungsamt einreichen zu können, wo letztendlich entschieden wird, ob jemand laut Gesetz Dopingopfer ist oder nicht – und damit Anrecht hat auf Entschädigung. Bis 31. März nächsten Jahres können die Anträge eingereicht werden, als „sehr kurzfristig“ empfindet das Birgit Boese. Auch Klaus Zöllig sieht die Frist als „sehr, sehr eng bemessen“ an, und vermutet dahinter gar „den politischen Willen, dass dieses Buch endlich zugemacht wird“.

Sportbund knausert

„Das Thema Dopingopfer scheint nicht mehr akut“, sagt Zöllig, und ins Bild passt da auch das Verhalten des Deutschen Sportbundes: Zwar hatte DSB-Präsident Manfred von Richthofen zunächst noch zügig die Bereitschaft signalisiert, die kompletten Kosten für die Beratungsstelle zu übernehmen, das Einlösen dieses Versprechens aber ließ dann auf sich warten. Zwar leistete der DSB eine Anschubfinanzierung von 15.000 Euro und stellt die Büroräume der Beratungsstelle zu Verfügung, die ebenfalls in Aussicht gestellt Entlohnung von Birgit Boese aber blieb bis Mitte Dezember aus. Erst auf wiederholte schriftliche Nachfrage regte sich der Sportbund kurz vor Weihnachten und teilte mit, weitere 10.000 Euro als „pauschalen Zuschuss“ bezahlen zu wollen. „Damit sind jetzt zumindest die Personalkosten abgedeckt“, sagt Klaus Zöllig, zwischen August und Dezember waren sie das noch keineswegs. In dieser Zeit musste Birgit Boese mit der schmalen Unkostenerstattung auskommen, die der finanziell keineswegs auf Rosen gebettete Verein für Dopingopfer-Hilfe ihr erstatten konnte.

Ob es mit der Beratungsstelle nach Ablauf der Antragsfrist weitergeht, ist freilich nach wie vor fraglich – und eher unwahrscheinlich. Beim DSB jedenfalls legt man Wert auf die Feststellung, „dass eine Zusage über diesen Zeitraum hinaus“ nicht gegeben werden kann. „Die wollen sich aus dieser Geschichte zurückziehen“, deutet das Zöllig. Das wird wohl dazu führen, dass die Beratungsstelle nach dem 31. März ihre Pforten wird schließen müssen. Die ursprünglichen Pläne, eine dauerhafte Doping-Beratungsstelle installieren und deren Arbeit auch auf die Prävention im Jugend- und Freizeitsport ausdehnen zu können, scheinen unter diesen Umständen jedenfalls in weite Ferne gerückt. Auch die Dopingopfer verlieren dann die einzige Anlaufstelle, die ihnen derzeit aktiv Hilfe anbietet und Rat. Mit den Schäden weiterleben werden sie dennoch müssen. „Keines der Opfer wird doch am 31. März plötzlich wieder gesund“, sagt Birgit Boese.

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