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Antisemitismus in FrankreichIn der Heimat nicht mehr sicher

Die Regierung verspricht Schutz, doch der Antisemitismus in Frankreich nimmt zu. Immer mehr französische Juden emigrieren nach Israel.

Die Große Synagoge in Straßburg: „Ohne seine Juden wäre Frankreich nicht mehr Frankreich“, sagte Premier Manuel Valls. Bild: imago/Haytham

PARIS taz | Bleiben oder ausreisen? Das ist eine Frage, die sich in Frankreich immer mehr jüdische Mitbürger stellen. Die meisten von ihnen hätten noch vor wenigen Jahren niemals geglaubt, dass sie eines Tages vor diesem Dilemma stehen würden. Doch das hat sich spätestens seit 2012 geändert – seit mehreren Attacken auf jüdische Einrichtungen.

Die blutige Geiselnahme im HyperCasher-Geschäft an der Porte de Vincennes in Paris, bei der vier Kunden von dem islamistischen Terroristen Amedy Coulibaly kaltblütig erschossen wurden, ist nur das jüngste dieser Verbrechen.

Der barbarische Angriff auf die Satirezeitung Charlie Hebdo am Mittwoch war ein Attentat auf die Presse- und Meinungsfreiheit. Die Ermordung einer Polizistin am Donnerstagmorgen war eine Herausforderung der Staatsgewalt der französischen Republik. Der Überfall auf ein jüdisches Geschäft und die gezielte Tötung von vier Juden zu Beginn der Geiselnahme am Freitag lässt an der antisemitischen Gesinnung keinen Zweifel. Nach noch unbestätigten Information wollte der mit automatischen Waffen und Sprengstoff ausgerüstete Coulibaly ursprünglich auch eine jüdische Schule angreifen.

„Wir befinden uns in einer Kriegssituation“, erklärte am Sonntag Roger Cukierman, der Vorsitzende des Repräsentativen Rats der Jüdischen Institutionen Frankreichs (Crif), der am Morgen von Staatspräsident François Hollande empfangen wurde. Hollande habe ihm versichert, wenn nötig, würden künftig – über die bisherigen Schutzvorkehrungen hinaus – Schulen, Synagogen und andere jüdische Einrichtungen vom Militär bewacht. Das wird nicht alle wirklich beruhigen.

Die Opfer

Sie waren nur zum Einkaufen in den Supermarkt gegangen, als der Attentäter Amedy Coulibaly in Militärkleidung mit zwei Kalaschnikows und zwei Granaten in den Laden stürmte. Am Bauch habe er eine Kamera befestigt gehabt, um die Ereignisse aufzuzeichnen, berichtet der Bruder des Ladenbesitzers laut Bild. „Ihr seid Juden, ihr werdet heute alle sterben“, habe Coulibaly gerufen. Dann habe er einzelne Geiseln aufgefordert, in die Kamera zu sprechen und die Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS) zu grüßen.

Yohan Cohen, 23, war seit einem Jahr Mitarbeiter des HyperCasher-Supermarktes. Er soll versucht haben, dem Attentäter die Waffe abzunehmen. Dieser schoss ihm daraufhin in den Kopf. Cohin wurde in Enghien-les-Bains geboren, seine Mutter stammt aus Tunesien, der Vater aus Algerien.

Philip Braham, 45, war in einem IT-Beratungsunternehmen tätig und besuchte die Synagoge in der südlich von Paris gelegenen Stadt Montrouge. Seine Kinder besuchen eine jüdische Schule, die nicht weit von dem Ort entfernt ist, wo am Donnerstagmorgen eine Polizistin getötet wurde.

Yoav Hattab, 21, war der Sohn eines Rabbiners in Tunis, wo seine Familie lebt. Er war eines von sieben Kindern, lebte aber allein in Paris, wo er die Schule besucht hat und später Marketing studierte. Auf seiner Facebook-Seite sieht man ihn auf Fotos lächelnd vor der Klagemauer in Jerusalem oder in Tunesien.

François-Michel Saada, 1951 in Tunis geboren, war bereits im Ruhestand. Er war seit über 30 Jahren verheiratet und ist Vater von zwei Kindern, die beide in Israel leben.

Der Attentäter hatte auch auf den Ladenbetreiber Patrice Ouialid geschossen, der sich aber verletzt retten konnte. (jak)

Für die Regierung ein Skandal

Obwohl sie auch in Israel Attentate befürchten müssen, denken daher immer mehr jüdische Franzosen an Auswanderung. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu will das unterstützen: Vor seiner Reise zur Pariser Kundgebung gegen den Terrorismus erklärte er den französischen Glaubensbrüdern einladend: „Israel ist euer Heim!“

Dass sich die jüdischen Mitbürger in Frankreich nicht mehr sicher und akzeptiert fühlen, ist für die Pariser Regierung ein Skandal. „Ohne seine Juden wäre Frankreich nicht mehr Frankreich“, betonte Premier Manuel Valls am Samstag bei einer Kundgebung vor dem Tatort bei dem jüdischen Supermarkt.

2014 wanderten schon über 6.000 französische Juden nach Israel aus. Aus keinem anderen Land kommen so viele „Olim“ nach Israel wie aus Frankreich. So heißen die Juden der Diaspora, die den zionistischen Traum einer „Alija“, einer Heimkehr ins Gelobte Land, verwirklichen. Laut der Jewish Agency for Israel und dem Integrationsministerium in Jerusalem sind letztes Jahr insgesamt 26.500 neue Bürger aufgenommen worden. Aus Frankreich – dem Land mit der nach den USA größten jüdischen Gemeinde außerhalb Israels – kamen mehr als aus der Ukraine, und vor allem fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor (3.400).

„Cousins“ auf Nordafrika

Der Antisemitismus (vor allem der extremen Rechten) war in Frankreich nie ganz verschwunden, in den letzten Jahren hat er sich in einer „neuen“ Form im Kontext des Nahostkonflikts bei Jugendlichen aus muslimischen Familien verbreitet. Die Beleidigung „sale Juif“ oder eben im Vorstadtjargon „Feuj“ ist dort mittlerweile so banal wie sonst ein Schimpfwort. Wer eine Kippa trägt, muss mit Spott oder gar mit tätlichen Angriffen rechnen.

Ausgerechnet in Quartieren, in denen die „Cousins“ aus Nordafrika, Muslime und jüdische Sephardim lange problemlos zusammengelebt hatten, wachsen jetzt die Spannungen. Diese latente Feindseligkeit wollten indes viele, auch innerhalb der jüdischen Gemeinden, bisher nicht wahrhaben.

Wenn in Frankreich nun aber – wie zurzeit der Nazi-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs – Juden allein wegen ihrer Religion oder ihrer Herkunft angegriffen oder kollektiv als Gemeinschaft für die Politik Israels verantwortlich gemacht und deswegen attackiert werden, fühlen sich manche von ihnen in dem Land, in dem sie geboren wurden und aufgewachsen sind, nicht mehr sicher.

Als im Pariser Vorort Sarcelles im Juli nach einer Solidaritätsdemonstration für Gaza in dem als „Klein-Jerusalem“ bekannten Quartier zahlreiche jüdische Geschäfte verwüstet und in Brand gesteckt wurden, erinnerten das die Älteren an Pogrome der Vergangenheit.

Prognosen für 2015 bei 10.000

Hollandes feierliche Erklärung, er wolle (wie schon seine Vorgänger Chirac und Sarkozy) den Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus zur nationalen Staatssache machen, dürfte all diejenigen kaum umstimmen, die an Auswanderung denken. Und der Druck von Politikern der Ultrarechten, die den „Olim“ die französische Staatszugehörigkeit aberkennen wollen und den Wehrdienst in Israel mit dem „Dschihad“ der IS-Terroristen gleichstellen, bestärkt sie eher in ihrem Projekt.

Israels Regierung und Organisationen wie die Jewish Agency fördern die Auswanderungspläne nach Kräften: So wird den französischen „Olim“ seit Kurzem neben Wohnbeihilfen im ersten Jahr auch die Anerkennung ihrer Diplome und ihres Führerscheins in Aussicht gestellt. Für 2015 rechnete die Jewish Agency in Israel mit 10.000 Neuankömmlingen aus Frankreich. Das war vor den jüngsten Verbrechen dieser Woche.

Auch der Betreiber des HyperCasher-Marktes hat sich nach Presseberichten jetzt entschlossen, nach Israel zu ziehen.

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17 Kommentare

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  • Also, wenn ich nicht darf, darf vielleicht Wikipedia:

     

    "Jude ist nach offiziellem israelischem Verständnis eine Bezeichnung einer Nationalität, weil alle Juden der Welt unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft zum jüdischen Volk gehörten. Israel ist nach zionistischem Verständnis der „Staat des jüdischen Volkes“.

     

    Daraus meine ich, logisch ableiten zu können, daß Israel die Heimat der Juden ist. Man belehre mich, wenn´s nicht so ist.

    • @Dudel Karl:

      Kommt drauf an.

      "Der nationale Begriff des Judentums führt nach Palästina, der jüdische nach Zion." (Gerschom Scholems)

      • @Vladimir 52:

        Aber keiner nach Frankreich.

    • @Dudel Karl:

      Und wenn wir schon mal bei Wikipedia bleiben , dann folgende Erklärung des Begriffes "Heimat"

       

      Der Begriff Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Mensch und Raum. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird er auf den Ort angewendet, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem die frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden, die zunächst Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen prägen

       

      Was Sie zwar anscheinend wollen, aber in der Tat nicht dürfen, ist den jüdischen Staatsbürgern in Frankreich, Deutschland oder sonst wo auf der Welt, ihre Heimat abzusprechen, nämlich das Land, in dem sie geboren wurden.

      • @Mal Mel:

        wer spricht hier wem was ab?

        Netanyahu twitterte:

        "To all the Jews of France, all the Jews of Europe,Israel is not just the place in whose direction you pray, the state of Israel is your home

        11:00 PM - 10 Jan 2015"

        und Yair Lapid ließ sich (in ha'aretz nachzulesen) hören mit:

        "I don’t want to speak in terms of Holocaust, but … European Jewry must understand that there is just one place for Jews, and that is the State of Israel."

  • Wachsender Antisemitismus ist -nicht nur in Frankreich- erschreckend. Wann lernen eigentlich ALLE Europäer, dass man seine Mitbürger nicht diskriminiert und umbringt?

     

    Aber ob Auswanderung wirklich die Lösung ist? Gefahrlos ist das Leben in Israel ja auch nicht. Und speziell bei Herrn Netanjahu drängt sich mir der Verdacht auf, dass ihm nicht so sehr das Wohl der Juden in Frankreich am Herzen liegt, sonder dass er neue Bewohner für seine Siedlungen werben will.

  • was soll denn der schwachsinn, der antisemintismus hat doch in europa sowieso eine lange tradition. auch in deutschland sind die zahlen der beleidigungen und übergriffe enorm schnell gestiegen, in spanien redet man zwar nicht drüber und gibt es auch keine ofiziellen Statistiken, aber antisemitische statements sind total normal. der holocaust hat ja nun mal stattgefunden, da muss man sich nicht wundern, wenn die leute gehen. nur - wohin? wenn auch in israel aus irre komplizierten gründen kein friede wird? also müssen wir eben alle an uns selber arbeiten und ansonsten strikt für die menschen eintreten, wann immer es geht oder nötig ist.

  • Man nennt es auch "Brain drain". Für Frankreich und Europa eine tragische Entwicklung. Eigentlich aber auch vorhersehbar, weil Frankreich nach dem Verlust Algeriens eine Schirmherrschaft über Nordafrika und den Nahen Osten anstrebte („Mittelmeerunion“) und sich dazu der aufkeimenden EU-Institutionen bediente - als Gegengewicht zu den USA und Russland. Eine Masseneinwanderung arabischer Arbeitskräfte war Teil der Abmachungen der EU mit der Arabischen Liga. Oder glaubt noch jemand, die Banlieus und mit ihnen der schwärende Antisemitismus wären aus dem Nichts entstanden?

    • @L'Occitane:

      Fronkreisch war überhaupt viel zu gut zu den Algeriern vor allem 1954, ja, ja. Das war eben Selbstverteidigung. Naja, solange sie keine Freundschaft zu Südafrika anstrebten...

    • @L'Occitane:

      nö. die banlieus muß schließlich wer ge-stadt-plant, entworfen und gebaut haben.



       

       

      Kommentar gekürzt. Bitte beachten Sie unsere Netiquette.

      • @christine rölke-sommer:

        und was, werte moderation, ist dieses

        "Oder glaubt noch jemand, die Banlieus und mit ihnen der schwärende Antisemitismus wären aus dem Nichts entstanden?"

        ich nenne es hate-speech.

      • @christine rölke-sommer:

        .. und weil ich in den "gestadtplanten" en banlieus wohne, muß ich automatisch Antisemit sein?

        • @Henri Sinople:

          sagt l'occitane.

          fragen Sie bei dem nach.

      • @christine rölke-sommer:

        Kommentar entfernt. Bitte halten Sie sich an die Netiquette.

  • In Frankfreich sind die sich immer mehr häufenden antisemitischen Überfälle heruntergespielt worden oder sogar als allgemeine kriminelle Taten eingestuft wurden, um ihnen den antisemitischen Anschein zu nehmen.

    Ausser Bewachung von Synagogen und jüdischen Schulen ist nichts unternommen worden, um das Thema tatsächlich in den Medien, in den Schulen und den muslimischen Vierteln anzugehen.

    So bleibt es bei einem leeren Lippenbekenntnis .

    • @Mal Mel:

      Auch in Deutschland ist trotz steigender antisemitischer Übergriffe nichts als lauwarme Solidaritätsbekundungen und wenig besuchte, von Juden selbst organisierte Anti-Antisemitismus-Demos geschehen. Gut, verglichen mit Frankreich leben die Juden hierzulande noch einigermaßen unbehelligt - noch. Aber dennoch wird das Problem bzw. die Ursache des Neo-Antisemitismus in Europa nicht ernst genommen. In Frankreich sitzen die Juden wieder auf gepackten Koffern, Tausende sind schon gegangen.