vorlesungskritik Ein Vortrag über die Geschichte der Stadtforschung: Der stinkende Urschlamm
Laue Frühlingsdüfte streifen selbst den Schiffbauerdamm. Sonnenschein auch im Vorlesungsraum des Instituts für Europäische Ethnologie. Auf dem Programm: die Geschichte der Stadtforschung. Der Raum ist gut gefüllt mit jungen Flaneuren und Feldforscherinnen des Urbanen, am Pult Professor Rolf Lindner. Spät seien hierzulande die Ethnologen und Volkskundler auf die Stadt gekommen, berichtet er – lange galt sie ihnen lediglich als problematische Einrichtung zur Verführung der Landbevölkerung, doch nun sind auch sie ihr verfallen, gerade in Berlin: Mythos Kreuzberg, die Nachtstadt.
Stolz verweist Lindner auf einige im Haus entstandene Schriften. Ein begeisternder Stadtforscher. Das Thema heute: die Stadt als Brutstätte. Eine kurze Warnung an sensiblere Naturen, den OH-Projektor angemacht, die Vorhänge zugezogen, und hinab steigt Lindner mit uns zu den Anfängen der Stadtforschung, zum stinkenden Urschlamm gewissermaßen.
Die Stadt im 19. Jahrhundert, Müll und Dreck allenthalben und Gestank: intensiv, atemraubend. Fasziniert und angeekelt seien die bürgerlichen Betrachter von den Zuständen in den städtischen Vierteln der Armen gewesen. Benebelt und berauscht vom Gestank des Abfalls und der Kloaken verschwamm im bourgeoisen Blick aufs Volk die Topografie der Quartiere mit der Moral ihrer Bewohner. Von Arbeit und Armut über den Schmutz zum Laster – eine semantische Kette.
Eine „Nostalgie de la merde“ habe einige der Zeitgenossen umgetrieben. Alexandre Parent-Duchâtelet etwa, „ein würdiger Vorfahr der Disziplin“, durchstreifte, ganz Empiriker, die Abwasserkanäle von Paris und befragte selbst die Arbeiter. Folgerichtig in der Logik der Zeit legte er einige Jahre später eine mit gleichen Methoden verfasste Studie zur Prostitution vor. Die thematischen Karten, in denen er die Bordelle verzeichnete, sind in Lindners Exemplar allerdings herausgetrennt worden: Handreichung für den Parisreisenden und frühes Beispiel für die Praxisrelevanz der Stadtforschung.
Man müsse kein allzu überzeugter Anhänger Freud’scher Ideen sein, so Lindner, um die Beschreibungen vom konkreten und moralischen Dreck, „von Sündenpfuhlen und Senkgruben des Lasters“, in Zusammenhang mit der Körperfeindlichkeit der bürgerlichen Klassen zu bringen. Die „lower parts of town“ korrespondieren mit den menschlichen „lower parts“. Die Rede von Letzteren war tabuisiert, verschoben auf die Slums produzierte sie dort geradezu ein Suhlen in Metaphern der Ausscheidungen.
Stadtforschung als Obsession, doch nicht von ungefähr, am Beginn stand die Angst vor der Cholera. Seit den 1830ern überzog sie Europa, trat zumeist und zuerst in den dicht besiedelten Armenvierteln auf, wie erste Überblickskarten über Sterbefälle belegten, machte aber hier nicht Halt. In Sorge um die eigene Gesundheit versuchten sich die Stadtväter einen Überblick über diese ihnen gänzlich unbekannten Brutstätten von Krankheit, Unmoral und Aufruhr zu verschaffen. Überblicken und Überwachen mit dem Auge der positivistischen Sozialwissenschaften.
Den nüchternen Statistikern waren diese Menschen fremd wie Wilde, noch fremder wurden sie in den Berichten sozialer Entdeckungsfahrender gemacht. Während Europäer ihre letzten weißen Flecken der Erde erschlossen, blieb allein der Großstadtdschungel für Abenteuerfahrten in unbekannte Regionen. Afrika im East End, zu Fuß zu erreichen. Topografische Tiefe tritt an die Stelle geografischer Ferne: „In diese Tiefen stieg der wagemutige Reisende hinab und in diesem Abgrund treffen wir uns nächste Woche wieder.“
Benommen taumeln wir ins Tageslicht, das brackige Wasser der Spree duftet gar lieblich.
CARSTEN WÜRMANN
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