taz Talk über Erinnerungskultur: „Jede Wissenslücke ist ein Einfallstor für Desinformation“
Der 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wirft Fragen zur Gegenwart auf. Darum ging es beim taz Talk „Östlich der Erinnerung“.
„Die ganze blutige Arbeit, die von den Mördern, von diesen Tieren in Menschengestalt, verrichtet worden ist – sie wird verwischt werden, es werden nicht einmal Spuren bleiben.“ Mit diesen Zeilen dokumentierte Perets Goldstejn zwischen Juni 1942 und Mai 1943 in seinem Versteck vor den Nationalsozialisten das unfassbare Geschehen.
Der jüdische Kaufmann, der ursprünglich im ostpolnischen Hoschtsch an der sowjetischen Grenze ansässig war, wurde unfreiwilliger Zeitzeuge einer sich überschlagenden Weltgeschichte: der sowjetischen Annexion, der deutschen Invasion und Okkupation sowie der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.
Diese eindringliche Erzählung bildet den Auftakt des Projekts „Der Krieg und seine Opfer“, das Leonid Klimov, Wissenschaftsredakteur bei Dekoder, beim taz Talk „Östlich der Erinnerung“ anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee in der taz-Kantine präsentierte. Das für den Online Grimme Award 2024 nominierte digitale Museum beleuchtet mittels interaktiven Karten und anhand persönlicher Narrative verschiedener Protagonist:innen den deutschen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion.
Es geht um fundamentale Fragen zur Erinnerungskultur: Wie wird dem 2. Weltkrieg in Deutschland gedacht? Wie wird mit der Kriegserinnerung im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine umgegangen?
Kollektive Erinnerungslücken
Empfohlener externer Inhalt
Östlich der Erinnerung
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Im von Gemma Pörzgen, Chefredakteurin der Zeitschrift „Ost-West. Europäische Perspektiven“, moderierten taz Talk herrschte Konsens zu deutschen, kollektiven Erinnerungslücken über den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.
Tanja Penter, Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg, kam auf ein weitverbreitetes Missverständnis zu sprechen: Die Gleichsetzung der sowjetischen mit der russischen Bevölkerung verschleiere, dass auch die Ukraine vollständig besetzt war. In diesem Zusammenhang äußerte sie zugleich Kritik an ihrer eigenen Disziplin und betonte: „Wir müssen die Geschichte dekolonialisieren.“
Jörg Morré, Historiker und Direktor des Museums Karlshorst, betonte, dass die Lücken in der Erinnerungskultur besonders in der isolierten Betrachtung von Auschwitz erkennbar werden. Die bildungspolitische Aufarbeitung beschränkt sich dabei weitgehend auf zwei zentrale Eckpfeiler: den Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 in Polen und die systematische Vernichtung in Konzentrationslagern.
Geschichte ist Rüstzeug gegen Desinformation
Bemerkenswert ist darüber hinaus die Ambivalenz der ukrainischen Kriegsgeschichte: Während sechs Millionen Ukrainer:innen in der Roten Armee kämpften, gab es – wie in allen sowjetischen Ländern – Kollaborateure mit dem NS-Regime. Peggy Lohse, freie Journalistin für Dekoder und die taz, verwies darauf, dass die bis 2022 kritisch geführte Aufarbeitung durch Putins Angriffskrieg und das propagandistische Narrativ der „Entnazifizierung“ eine neue Dimension erhalten habe. Dementsprechend ist auch im Hinblick auf den deutschen Diskurs „jede Wissenslücke ist ein Einfallstor für Falsch- und Desinformation“, so Lohse.
Jens Schley, wissenschaftlicher Geschäftsführer der Bildungsagenda NS-Unrecht bei der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), schloss mit einem Plädoyer für eine multiple Erinnerungskultur und die Würdigung unterschiedlicher historischer Narrative. Auch 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz blieben noch zahlreiche Meilensteine der historischen Aufarbeitung zu passieren – nicht zuletzt als intellektuelles Rüstzeug gegen zeitgenössische Desinformation.
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