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taz-Sommerserie „Berlin geht baden“ (2)Früher war mehr Lametta

Die bonbonbunte Fressbudengasse des Insulanerbades erinnert an Imbissstände am Strand von Coney Island. Ein Schwimmbadbesuch im regnerischen Sommer.

Seltener Anblick in diesem Sommer: Wolkenlücken über dem Insulaner Foto: Uli Hannemann

Berlin taz | Jetzt wird es langsam richtig eng“, sage ich in KW 29 beim morgendlichen Blick aus dem Schlafzimmerfenster. Es ist nämlich wieder kein Schwimmbadtag. „Ich muss doch schon nächste Woche diesen schwachsinnigen taz-Schwimmbadtext abliefern“, beantworte ich den verschlafen fragenden Blick der Gattin.

„Schreib doch irgendwas darüber, wie du jeden Tag NICHT ins Schwimmbad gehst“, sagt sie und gähnt. „So ein freischwebendes Format klingt doch eh viel mehr nach dir.“ Keine Ahnung, was sie meint.

„Schwachsinniger Text“ sollte natürlich bewusst flapsig klingen. Eine lässig provokative Pose. Als besäße ich noch irgendeine andere Option. Tue ich aber nicht. In der Tat bin ich der taz sehr dankbar („I would suck her dick“, hätte meine Oma das in ihrer unnachahmlich treffenden Art ausgedrückt), denn sie ist das letzte Medium, das meiner verblassenden Dichtkunst noch so etwas Ähnliches wie Existenzberechtigung verleiht. Alle anderen haben mich längst aufgegeben. Wenn die mich hier auch noch rausbooten, zum Beispiel, weil ich den Schreibauftrag über einen Besuch des Sommerbads am Insulaner vergeige, bleibt mir nur noch der Tod.

Angesichts dieser Ausgangslage und der immer schmaler werdenden Sonnenscheinqualitätszeitfensterchen komme ich echt in die Bredouille. Ausgerechnet jetzt fällt der so dringend benötigte Regen. Wenn es nicht gerade damit beschäftigt ist, dem russischen Bären Pelz und Po zu waschen, jubelt ein anderes Berliner Blatt ja gern darüber, wie sehr doch der gegenwärtige Sommerregen den „Klimawandel“ (Anführungszeichen dort) als billige Inszenierung von Bill Gates, den Grünen, den Wessis und anderen Berufsjuden entlarvt. Doch für mich wird diese kurze Atempause innerhalb des Hitzekollapses zum Problem. Bei schlechtem Wetter geh’ ich nämlich nicht ins Schwimmbad, sorry, nee.

Kindheitsgefühle im Insulaner

Aber der sicher gutgemeinte, doch in seinem moralischen Kern verrottete Vorschlag der Ehefrau kommt für mich ebenfalls nicht infrage. Den Besuch zu faken oder das Thema schamlos auf die Metaebene zu verlegen, geht gegen mein Ethos. Und das ist gewaltig, schon fast ein Heldenethos. Denn wenn es einen klassischen Antipoden des journalistischen Lügenbarons Claas Relotius gibt, dann bin ich das, Ulrich der Ehrliche. Das ist allseits bekannt, nur deshalb darf ich hier überhaupt noch schreiben. Redlichkeit zahlt sich am Ende immer aus.

Das Insulaner-Bad habe ich gewählt, weil es nach unserem Umzug nach Schöneberg einigermaßen gut erreichbar ist. Ich war zwar schon mal da, aber das ist an die 20 Jahre her. Das macht es nun natürlich umso spannender.

Und als sich eines Freitagmittags dann endlich doch ein paar größere Wolkenlücken auftun, buche ich mir online einen Slot, und sattle mein Fahrrad. Ich möchte jenem Glück nachspüren, das der Freibadbesuch in mir als Kind ausgelöst hat. Das dürfte schwierig werden. Weil eigentlich ist es ja nur heiß, ich schwitze wie ein Depp, und die Badeanstalt ist weit. Was will ich da? Jetzt nur schnell die Scheiße abhaken und nix wie zurück in die kühle Wohnung, im Gemüsefach liegt Bier.

Dabei erinnere ich mich durchaus noch an die Euphorie, die ich, mit einer Mark in der Tasche meiner kurzen Lederhose mit dem Plastikhirschen vorne auf dem Brustlatz, am Eingang zum Bad fühlte. Es roch nach Sonnenmilch und Chlorwasser, Arschbomben klatschten, die unerledigten Hausaufgaben in Heimat- und Sachkunde verdrängte ich so gekonnt wie heute Deadlines.

Erhöhte Schwimmbadpreise

An der Kasse zeige ich mein Handyticket. 5,60 Euro für den halben Tag. Was für ein schnöder technokratischer Vorgang, wo damals meine 10 Groschen in die Drehschale an der Kasse klapperten. An guten Tagen hatte ich auch noch 40 Pfennige für ein „Capri“ übrig, während eine „Bluna“ meist jenseits meiner Möglichkeiten lag. Pommes gab es nicht, soweit ich mich erinnere. Reiche konnten ein Paar Wiener Würstchen mit einer Scheibe Graubrot kaufen.

Heute bin ich einer dieser Reichen. Fleiß und Talent haben aus mir einen wohlhabenden Mann gemacht. Ich könnte mir ein Radler holen oder ein Magnum Mandel; ich kann alles haben, was ich will, doch macht mich das glücklich? In der bonbonbunten Fressbudengasse des Insulanerbads, die mich an die Imbissstände am Strand von Coney Island erinnert, bestelle ich eine Currywurst. Ohne Darm, mit Pommes und ordentlich Majo.

„Mach’ ich dir, mein Schatz“, sagt die hemdsärmelige Angestellte mit ihrem ironischen Berliner Charme, der auch einer Eckkneipenwirtin gut zu Gesicht gestanden hätte. Darf ich „Matrone“ sagen, oder ist das ein ähnlich vorgestriges Wort wie „Mestize“? Vermutlich. Aber ich bin ja auch selbst ein bisschen vorgestrig: Wenn ich daran denke, dass die neue Verfassungsrichterin wahrscheinlich Winnetou verbieten will, wird meine Diastole dreistellig.

Die Cholesterinbombe kostet 8 Euro, das sind umgerechnet 40 „Capri“, die ich mir hier in 2 Minuten reinsauge, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch statt des erhofften Glücksrauschs empfinde ich nur noch mehr Leere. Erfüllung kann man nicht fressen – den Satz sticke ich mir auf meine Yoga-Matte.

Anschließend mache ich Bilder mit dem Handy: Die steile Hanglage der Liegewiese, die sich im Halbkreis zu den beiden Schwimmbecken herunterzieht, ist für Berlin schon ziemlich einmalig. Ob Freibäder oder großzügig angelegte Verkehrsschneisen – auch das Sommerbad am Insulaner ist eines der vielen indirekten Geschenke der Alliierten, die uns nicht nur (wie man nun feststellen muss: leider nur vorübergehend) vom Faschismus befreit haben, sondern auch von vielen unnützen Gebäuden. Die liegen nun mitsamt Knochenresten, verkohlten Tagebüchern und Blindgängergranaten unter einem großen Trümmerberg begraben, der dem angrenzenden Bad zu seinem einzigartig hügeligen Ambiente verhilft. So muss es sein: Hier schenkt der Tod den Lebenden Erholung.

Kindergeschrei und „Capri“

Ein Bademeister kommt vorbei und sagt ganz freundlich, ich solle keine Fotos oder Filme machen. Ein Dilemma. Denn einerseits verstehe ich das im Prinzip vollkommen; ich bin ja nicht von vorvorgestern. In einem Land, in dem die Zahl der Wichser jeden Tag beharrlich steigt, sind Vorkehrungen angebracht. Doch andererseits muss ich das ja alles dokumentieren, so als 4. Gewalt.

Allerdings ist dieser freischreibende Eskapismus wohl bestenfalls die 12. oder 13. Gewalt. Auch hat mir bereits die Redaktion eingeschärft, wenn es mir denn irgend machbar erscheine, möglichst bitte nicht allzu viele nackte Kinder abzulichten. Besser wenige. Am besten keine. Auf gar keinen Fall irgendwelche.

Das Handy wandert in den Rucksack. Weil ich allein gekommen bin, schlage ich meinen Badeplatz auf den Steinstufen in Sichtweite zum Becken auf. Da wird mein Zeug nicht ganz so leicht geklaut, wenn ich nachher im Wasser bin. Ich schließe die Augen und lausche dem Kindergeschrei. Die pure, unverstellte Freude hört sich gut an.

Ich muss die Augen auch deshalb schließen, damit ich mir das Geschrei überhaupt vorstellen kann. Denn es regnet zwar nicht, aber es ist bewölkt, und die wenigen anwesenden Kinder frieren bloß stumm vor sich hin. Wie Kinder einen Eintrittspreis von 35 „Capri“ (Stand: 1975) überhaupt bezahlen sollen, weiß der Geier. Vielleicht sind auch deshalb so wenige hier. Politisch ist das sicher gewollt. Wer kein Geld hat, soll die Schnauze halten.

So ausgelassen rumgekreischt wie die Kinder hier in meinem Kopf, habe ich ja nie. Ich war ein stiller Knabe, die Demut mein steter Begleiter. Aber im Schwimmbad war ich glücklich. Zweifelsfrei. Wo ist diese Fähigkeit zur unbefangenen Freude, hin? Ähnlich hatte ich mich auch auf Weihnachten gefreut oder meinen Geburtstag. Heute ist Weihnachten ein Tag wie jeder andere, nur noch ein Stück beschissener. Und mein Geburtstag erinnert mich lediglich an das leiser werdende Ticken meiner Lebensuhr.

20 Bahnen im 20-Grad-Becken

Denn mit der Zeit wurden die positiven Emotionen immer weniger und die Reizschwelle immer höher. Nikolaus, Osterhase und „Capri“ wurden von Sex und Drogen abgelöst, doch auch derlei peripherer Pupskram tangiert mich kaum noch, kein Badetag und keine Curryurst. Schade irgendwie. Aber auch egal. Ist ja alles so egal.

Im 50-Meter-Becken schwimme ich 20 Bahnen bei wohltemperierten 20 Grad. Anschließend mache ich mit einem Buch in der Hand eine kleine Runde über die Liegewiese. Gut, dass der Himmel so verhangen ist. Ich habe meine Sonnencreme vergessen und ohnehin schon eine 10 Zentimeter lange Narbe am Arm: weißer Hautkrebs. Im Grunde ist es nur zu Hause wirklich sicher.

Auf der Wiese lagert heute niemand, bis auf einen mutmaßlich Drogensüchtigen, der mit Sack und Pack über den Zaun gestiegen sein muss. 7 Euro für das Tagesticket wird er jedenfalls kaum bezahlt haben. Sack und Pack liegen großzügig um ihn herum verteilt auf dem Rasen – hier Sack, und da Pack, und noch ein Pack und dort noch mehr Pack. Müll, könnte man auch sagen. Schlotternd sitzt er da und so richtig viel Spaß dürfte er hier ebenfalls nicht haben. Es ist einfach alles nicht wie früher.

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