taz-Serie Schillerkiez: Zwischenlanden in der Zeitschneise
Zwei Jahre nach der Öffnung des Tempelhofer Felds versorgt der Imbiss "Zur Flugschneise" seine Stammkundschaft immer noch zuverlässig mit Kaffee und Korn. Studierende, Künstler und sonstige Neubewohner machen einen Bogen um das Büdchen.
Zwei junge Männer schlendern in Jeansleggings über die Oderstraße. Sie tragen gefälschte Ray-Bans, führen einen Mops Gassi und sind sich ihrer Sache sicher. Bis der Hund sich losreißt und auf den Imbiss zurennt, der am Rand des ehemaligen Flugfelds steht: „Zur Flugschneise“ heißt der Laden und bringt die Männer sichtlich aus der Fassung. Beherzt fangen sie das Tier ein, bevor es sein Ziel erreicht.
In der Tat wirkt die „Flugschneise“ auf den ersten Blick ziemlich schräg: ein Büdchen, mit schwarz-rot-goldenen Flaggen in diversen Größen verziert, im Angebot Alkoholika von Korn bis Weinbrand. Wurst und Eis gibt es auch. Davor ein Freisitz, der mit dem Vierviertelbummsbeat eines privaten Radiosenders beschallt wird. Auf Korbstühlen um Tischchen gruppiert sitzt ein knappes Dutzend Gäste im Rentenalter. Sie rufen nach der nächsten Runde Sambuca und bekommen vom Mopsdrama nichts mit. Denn die „Flugschneise“ ist eine eigene, aus der Zeit gefallene Welt.
Seit 70 Jahren gibt es den Laden im äußersten Osten des Tempelhofer Felds. Schon der Name ein Anachronismus: Er erzählt von den Tagen, da in Tempelhof noch Flieger landeten. Damals lag der Imbiss tatsächlich in der Einflugschneise. 2008 wurde der Flughafen geschlossen, das Gelände zu einer riesigen Wiese umfunktioniert, auf der nun gegrillt, gegärtnert und geskatet wird. An vielen Stammgästen der „Flugschneise“ scheint das vorbeigegangen zu sein.
Zwischen Tempelhofer Feld und Hermannstraße liegt der Schillerkiez. Lange galt das Viertel am Rande des einstigen Flughafens als Armeleutegegend. Menschen aus vielen Ländern leben hier, die Arbeitslosenquote beträgt über 40 Prozent.
Mit der Stilllegung des Flughafens 2008 und der Eröffnung des 386 Hektar großen Flugfelds als Park am 8. Mai 2010 - vor genau zwei Jahren - ist aus dem Viertel ein Quartier mit Potenzial für Investoren geworden. Hier sollen Gewerbebetriebe entstehen und neue Wohnquartiere für die obere Mittelschicht.
Drohen dem Schillerkiez nun Mietsteigerungen wie weiten Teilen von Prenzlauer Berg und Kreuzberg? Sind die Studierenden und Künstler, die ins Viertel strömen, Vorboten einer Gentrifizierung, die in Friedrichshain und Mitte fast beendet ist?
Die taz beobachtet diese Veränderungen seit Mai 2010.
„Für mich bleibt das Tempelhofer Feld ein Flughafen“, sagt Rolf, ein untersetzter Mann in umgenähten Jeans und Turnschuhen. „Ich gehe da prinzipiell nicht drauf.“ Rolf schätzt, was er kennt – er kehrt seit 20 Jahren auf das eine oder andere Bier hier ein. Jetzt, da er in Rente ist, bereits um 15 Uhr, gleich nach Öffnung. Von den Korbstühlen aus können er und seine Freunde das ehemalige Flugfeld nicht einsehen, das Büdchen ist links und rechts von Büschen zugewuchert. In den Fahrradweg, der zur „Flugschneise“ führt, haben Platanenwurzeln tiefe Furchen gesprengt. In dieser wilden Imbissoase bleiben die Gäste bis in die Abendstunden hängen – alteingesessene Neuköllner, ein Großteil lebt im Schillerkiez.
Wolke aus Bockwurstduft
Da ist Brigitte, die nach schwerem Parfüm duftet und lange rote Nägel mit Glitzerapplikation trägt. Und ihr Mann Manfred, gebürtiger Neuköllner, der ihr sagt, wie schön sie bis heute sei, „auf deine Art, Schatz“. Sie lachen viel miteinander. Ihr Pudel Ronny kläfft jeden Radfahrer an, der vorbeikommt. Eingehüllt in eine Wolke aus Filterkaffee- und Bockwurstduft, der dem Inneren des Büdchens entströmt, sitzen sie da und beschwören die Tage herauf, als sie zum Sound landender Flugzeuge einschlafen durften. Oder versuchen, sich an die Tramlinien zu erinnern, die einst durch den Bezirk fuhren. Bei jeder richtigen Endhaltestelle noch einen Schluck Sekt: „Auf die Heimat!“
Hin und wieder platzt die Neuköllner Gegenwart in die traute Runde: Ein junger Mann mit Kapuzenpullover und Longboard unterm Arm schlängelt sich bis zum offenen Imbissfenster vor. „Ich hätte gerne ein Bier, bitte“, ruft er in den Laden, sein Hamburger Dialekt ist nicht zu überhören. Henry Brunow, der Besitzer der „Flugschneise“, streckt neugierig seinen Kopf nach draußen: „Zum Mitnehmen oder Hiertrinken?“, fragt er. „Zum Mitnehmen, zum Mitnehmen“, wiederholt der Skater, um jedem Missverständnis vorzubeugen – und verschwindet, um seine Runden auf der einstigen Landebahn zu drehen.
„Für die jungen Leute ist alles immer nur to go, ob Kaffee oder Bier“, sagt der 49-jährige Brunow. „Ohne ein Verweilen gibt es kaum Austausch zwischen den Zugereisten und den alten Neuköllnern“, bedauert er und streicht sich über den Schnauzer. Stammgast Rolf tröstet: „Du musst cool bleiben, Henry, so cool wie diese jungen Leute. Die sind dein Kapital, wenn wir alle mal tot sind.“
Tatsächlich sorgt sich Brunow manchmal, was aus seiner „Flugschneise“ wird. Vor 23 Jahren hat den Laden übernommen. Das Publikum habe sich mit der Zeit sehr gewandelt, erzählt er. Bis in die nuller Jahre wurde die „Flugschneise“ von Planespottern frequentiert. „Die kamen sogar aus der Schweiz und Österreich, um hier zu sitzen und bestimmte Flugzeuge beim Landen zu bestaunen.“ Mit der Eröffnung des Tempelhofer Feldes habe es junge Menschen in den Kiez gezogen. „Parallel steigen die Mieten“, sagt Brunow. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch in die Gegend passe.“ Er selbst ist inzwischen nach Brandenburg gezogen und pendelt nun zur Arbeit nach Berlin. Von März bis Oktober betreibt er die „Flugschneise“. Dazwischen verkauft er Weihnachtsbäume am S-Bahnhof Südkreuz.
Das mit den Jahreszeiten nimmt einer seiner Gäste nicht ganz so ernst. „Frohes neues Jahr!“, ruft Stephan zur Begrüßung in die „Flugschneise“. Mit Klingelgetöse kommt der dünne Mittvierziger auf dem Rad herangerollt. „Ein Bierchen, bevor es an die Arbeit geht!“, bestellt er fröhlich. Stephan sammelt seit zwei Jahren Leergut auf dem Tempelhofer Feld und ist einer der wenigen hier, die der großen Wiese etwas abgewinnen können. „An einem sonnigen Wochenende können schon 200 Euro Pfand zusammenkommen“, erzählt der Neuköllner und zischt sein Bier weg. Unter dem Gebelle von Pudel Ronny braust Stephan davon in die Wiesenwelt jenseits der „Flugschneise“. Wirt Brunow bleibt mit seinen Stammgästen verdutzt zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“