taz-Serie Schillerkiez: Gentrifizierung? Gar nicht so schlecht!
Es gehört quasi zum guten Ton, über Verdrängung aus Szenevierteln zu schimpfen. Gerade die Migranten sollten das tun, denkt der Mehrheitsmensch – und irrt.
Nicht gerade hübsch der Anblick, der sich bietet, wenn man die Treppen am U-Bahnhof Boddinstraße hinaufläuft. Der Ausgang befindet sich auf einer Mittelinsel, rechts und links rasen Autos vorbei, auf der Hermannstraße reihen sich diverse Läden aneinander: türkische und arabische Bäckereien, schrullige Friseursalons, Wettbüros, Sonnenbankstudios und viele dieser kleineren „Elektrospätis“ oder Internetcafés. In den 90er Jahren schossen sie wie Pilze aus dem Boden. Inzwischen erscheint das Konzept veraltet, denn „Telefon- und Internetflats“ lassen sich bequem auf dem Smartphone in der Hosentasche herumtragen. Trotzdem gibt es sie noch, auch hier am Rande des Schillerkiezes.
Hinter dem Tresen des „Senem Call Center“ auf der Hermannstraße steht Furkan Demir. Der 23-Jährige ist Mitinhaber des Familiengeschäfts, das er gemeinsam mit Vater und Cousin führt. Seine Schicht beginnt am frühen Abend und dauert bis tief in die Nacht. Demir macht trotz der langen Schicht einen gelassenen Eindruck hinter der Kasse. Geduldig kümmert er sich um die im Minutentakt eintrudelnden Kunden, die Tabakwaren, Getränke oder Mobilfunkzubehör kaufen. Auffallend in letzter Zeit ist die vermehrt englischsprachige Kundschaft.
Das Geschäft läuft gut
In dem Neuköllner Kiez macht sich die Gentrifizierung seit längerem bemerkbar. Auch bei Furkan Demir und seinen Kumpels ist das immer wieder mal ein Gesprächsthema. Allerdings diskutieren sie unaufgeregter, als es in den Medien oder in der Mehrheitsgesellschaft der Fall ist. Denn für das Geschäft seien die Veränderungen eigentlich ganz gut: „Hier kommen viele Menschen vorbei“, so Furkan, der in einer der Seitenstraßen entlang der stark befahrenen Hauptstraße aufgewachsen ist. Sein Geschäft profitiert davon, aber sein Privatleben hat das bisher nicht wirklich beeinflusst. Das Viertel sei nicht mehr die Nachbarschaft seiner Kindheit, berichtet er. Und ihm ist auch klar, dass die Mieten steigen. „Andere, die nicht so viel Geld haben, werden früher oder später wegziehen müssen. Das ist natürlich nicht fair.“ Er persönlich sei aber über die Entwicklung im Stadtteil nicht unzufrieden.
Zwischen Flughafen Tempelhof und Hermannstraße in Neukölln liegt der Schillerkiez. Lange galt das Viertel am Rande des Flugfelds als Armeleutegegend. Doch spätestens mit der Stilllegung des Flughafens 2008 ist aus dem Viertel ein Quartier mit Potenzial für Investoren geworden. Seit 2010 ist die 386 Hektar große Freifläche ein beliebter Park. Am Rand des Geländes sollen nach dem Willen des Senats neue Wohnquartiere für die obere Mittelschicht entstehen - und vielleicht auch ein paar Sozialwohnungen.
Viele Anwohner fürchten, dass sich damit die Aufwertung der Gegend noch beschleunigt. Schon länger steigen die Mieten im Viertel; Alteingesessene klagen darüber, dass sie es sich kaum mehr leisten könnten, dort zu wohnen.
Die taz beobachtet diese Veränderungen seit Mai 2010.
So nüchtern haben er und seine Freunde auch das Volksbegehren zum Erhalt des Tempelhofer Feldes aufgenommen. „Klar habe ich davon gehört“, berichtet Demir. „Ich wollte auch mit meiner Unterschrift etwas zum Erhalt des Feldes beitragen.“ Aber das ging nicht. Der 23-Jährige ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt er aber nicht. Dass er sich deshalb nicht am Volksbegehren beteiligen konnte, habe ihn geärgert, vor allem weil die bürokratischen Anforderungen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft so kompliziert seien. Vor einigen Jahren habe er es probiert, dann aber wieder aufgegeben: „zu viel Papierkram“.
Unter den Alteingesessenen im Schillerkiez, die einst als Migranten in die Stadt kamen, gibt es nicht wenige, die sich in Zukunft die steigenden Mieten nicht mehr leisten werden können. Die Empörung darüber hält sich aber generell in Grenzen. Anders als am Kotti in Kreuzberg, wo auch ehemalige Gastarbeiterfamilien sich kämpferisch und erfolgreich gegen die Verdrängung politisch formiert haben, gibt es im Schillerkiez keine derartigen Ängste und schon gar keine Bündnisse. Im Gegenteil: Das aktuelle Stadium der Gentrifizierung wird als Chance zur positiven Veränderung begriffen.
Etwa im Verein Al-Huleh in der Weisestraße. Die gemeinnützige Organisation wurde 1995 von palästinensischstämmigen EinwandererInnen gegründet und ist nicht nur Anlaufstelle für Menschen aus dem Kiez. „Unsere Mitglieder kommen aus allen Bezirken Berlins“, erklärt Samira Tanana. Die junge arabischstämmige Frau ist die zweite Vorsitzende des Vereins und seit einigen Jahren dort ehrenamtlich aktiv. Von Folklorekursen über Familienberatung bietet Al-Huleh eine Menge Programm im Bereich Kultur und Gesellschaft und kooperiert auch mit anderen im Kiez ansässigen Organisationen, wie dem Türkisch-Deutschen-Zentrum (TDZ).
Tanana, vom Beruf Sozialpädagogin, ist selbst aus Schöneberg, hat aber durch ihre jahrelange Arbeit in Neukölln die gesellschaftlichen Entwicklungen intensiv beobachtet. Die von außen oft verteufelte Gentrifizierung tut ihrer Ansicht nach dem Kiez ganz gut. Und Tanana nutzt die Veränderungen in der Nachbarschaft, um Kontakte zu anderen Vereinen und Geschäften in der Umgebung zu knüpfen. Zum Beispiel mit dem Café Jule, welches sich problemlos in die Kategorie Hipstertreffpunkt einordnen lässt. Dort werden nun in Zusammenarbeit mit dem arabischstämmigen Verein Erzählcafés veranstaltet.
Aus dem Leben erzählen
Dessen simple Prinzip führt zu regem Kontakt und Austausch: Menschen unterschiedlicher Herkunft kommen im Café zusammen und erzählen über ihre Lebensgeschichte. Dänen, Argentinier, Türken und Araber zum Beispiel, wie sie den Weg in den Schillerkiez gefunden haben. Ziel sei es, so Tanana, die Nachbarn besser kennenzulernen.
Die Unaufgeregtheit bis positive Wahrnehmung der Entwicklung zieht sich durch die Gespräche in der gesamten Gegend. In einer verrauchten Bar, ganz am Rande des Kiezes, schon fast außerhalb, treffen sich junge Frauen und Männer aus der Gegend, die gerne ihren Feierabend mit einer Wasserpfeife ausklingen lassen. Muskulöse Männer in Ledermontur sitzen auf orientalischen Hockern und paffen an der Fensterladenfront aus bunten Flaschen süß duftenden Tabak. Mesut Sen ist einer von ihnen. Er ist Mitte dreißig, ist aufgewachsen in der Nähe vom U-Bahnhof Leinestraße und immer wieder in diesem Stadtteil umgezogen, wo er auch heute noch wohnt. Auch er meint, die Veränderungen täte dem Kiez ganz gut. Und von einem Kreuzberg sei man noch weit entfernt. „Ich denke, dass die uns 20 Jahre voraus sind“, so der Unternehmer.
Ein raues Viertel
Die ganze Gegend, auch der Schillerkiez, sei noch rau, erklärt Sen. Viele gescheiterte Existenzen würden hier noch umherziehen, erkennbar etwa an den zahllosen Wettbüros, die es noch gibt. „Sie sind unglücklich und verspielen Geld. Vielleicht leben sie in einer unglücklichen Beziehung oder haben andere Probleme“, mutmaßt er. Auch seien viele Opfer der vorigen Generationen, gemeint sind vor allem die Gastarbeiterkinder: „Die Eltern haben sehr viel mehr Zeit damit verbracht, sich in einem fremden Land zurechtzufinden – verständlicherweise. Aber die Aufmerksamkeit für den Nachwuchs kam zu kurz“, so Sen.
Gerade unter denen, die selbst noch um eine Existenz zu kämpfen haben, seien Vorbehalte gegen EinwanderInnen aus Rumänien und Bulgarien zu beobachten, die in den letzten Jahren vermehrt in die Nachbarschaft gezogen sind. „Als unsere Eltern und Großeltern nach Deutschland kamen, begegneten die Ansässigen ihnen mit Vorurteilen. Vielleicht auch deshalb, weil sie Angst um ihren Platz in der Gesellschaft hatten“, so Sen.
Billige Arbeitskräfte
Tatsächlich fühlen sich gerade die nicht Wohlsituierten bedroht – weniger von den steigenden Mieten als vielmehr von den neuen Einwanderern. „Sie arbeiten für weniger Geld, als wir es ohnehin schon tun“, klagt zum Beispiel eine junge türkischstämmige Frau, die in einer Bäckerei in der Nähe arbeitet und anonym bleiben möchte. Der Job sei hart und schlecht bezahlt, aber immer noch besser als keiner. Eine Ausbildung hat die 29-Jährige nicht gemacht.
Mesut Sen glaubt, die Geschichte wiederhole sich, nur die Protagonisten seien andere. Das Verhältnis zwischen „alten“ und „neuen“ MigrantInnen würde sich ändern. In einigen Jahrzehnten werden jene, die derzeit als „Eindringlinge“ angesehen werden, im Stadtbild beheimatet sein – just wie sich heute Kinder und Enkelkinder der einstigen Gastarbeiterfamilien selbstverständlich als Ureinwohner von Neukölln oder Kreuzberg betrachten. Migration, Integration, immer und immer wieder – alles eine Frage der Zeit. Daher sei ein bisschen positive Bewegung im Kiez gar nicht so schlecht.
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