taz-Serie Schillerkiez: Die Pfarrerin: "Ich stoße immer wieder auf verschüttete Reste von Glauben"
Elisabeth Kruse ist seit sechs Jahren Pfarrerin der Genezareth-Kirche in Neukölln. In ihrem Viertel erlebt sie gesprächsbereite Muslime, verunsicherte Alteingesessene - und vereinzelte spirituelle Lichtblicke.
taz: Frau Kruse, besonders gläubig sind die Leute im Schillerkiez wohl nicht. Oder warum sind gibt es so wenig Sitzreihen in Ihrer Kirche?
Elisabeth Kruse: Nun ja, von offiziell eingetragenen 4.500 Mitgliedern in meiner Parochie sind etwa 200 bis 250 aktiv. In der Genezareth-Kirche haben wir Bänke für insgesamt 80 Leute. An normalen Sonntagen sind etwa 40 Plätze belegt. An Weihnachten oder zu Konfirmationen kommen bis zu 170.
Das sind wirklich nicht gerade viele…
Die 52-jährige lebt seit 1984 in Berlin. Als sie 2004 Pfarrerin der Genezareth-Kirche wurde, zog sie aus dem beschaulichen Friedenau in den Schillerkiez.
Zwischen Flughafen Tempelhof und Hermannstraße liegt der Schillerkiez. Bislang galt das Viertel am Rande des Flugfelds als Armeleutegegend. Menschen aus vielen Nationen leben hier, mehr als 40 Prozent sind arbeitslos, der Kiez hat die höchste Bevölkerungsdichte von Neukölln.
Doch spätestens seit der Stilllegung des Flughafens 2008 ist aus dem innerstädtischen Viertel ein Quartier mit Potenzial für Investoren geworden. Seit Anfang Mai ist die 386 Hektar große Freifläche ein Park; es sollen Gewerbebetriebe entstehen und neue Wohnquartiere für die obere Mittelschicht.
Droht dem Schillerkiez nun also eine Welle von Aufwertung und Mietsteigerungen, wie sie weite Teile von Prenzlauer Berg und Kreuzberg bereits erlebt haben? Sind die Studierenden und Künstler, die seit einiger Zeit ins Viertel strömen, Vorboten einer Entwicklung, die in Friedrichshain und Mitte schon an ihrem Ende angekommen ist? Wird das einstige Arbeiterviertel gentrifiziert - oder wird es bei ein paar Townhouses am Parkrand bleiben?
Sicher ist nur eins: Der Schillerkiez wird sich verändern. Wer davon wie stark profitiert, wird man sehen. Die taz wird diese Veränderungen in den nächsten Jahren beobachten. Das Projekt läuft seit Mai 2010.
Aber zu meiner Gemeinde zähle ich nicht nur die Gläubigen, die zu den Gottesdiensten kommen. Sondern auch die Ehrenamtlichen, Leute, die die Außenanlagen pflegen oder bei Veranstaltungen den Kaffee kochen. Dazu kommen viele, die zwar nicht in den Gottesdienst gehen, aber mit dem Standort sympathisieren.
Sie kamen im Jahr 2004 als Pfarrerin an die Genezareth-Kirche. Was war Ihr erster Eindruck vom Schillerkiez?
Recht positiv. Dass meine Kirche im Chaos war, weil sie komplett umgebaut werden sollte, störte mich nicht. Ich hatte auch kein Problem damit, in einem Arbeiterviertel gelandet zu sein, schließlich komme ich selbst aus einem Handwerkerhaushalt und wollte lieber im Schillerkiez arbeiten als, sagen wir, in Dahlem. Aber als ich an Silvester aus meinem beschaulichen damaligen Wohnort Friedenau vorbeischaute, musste ich schon schlucken: Überall knallte es, man konnte vor lauter Rauch kaum sehen, dann die vielen Volltrunkenen. Und ich dachte: "Oh Gott, wie bringe ich nächstes Silvester meine neue Kirche heil durch die Nacht?"
Was haben Sie getan?
Ich hatte zwei Möglichkeiten: entweder alles verrammeln und mit Brettern zunageln, wie man es in Kreuzberg am 1. Mai gemacht hat. Oder: Licht an, Türen auf, und alle zum Feiern einladen. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Und jahrelang gute Erfahrungen damit gemacht. Die Leute wollten diesen Treffpunkt auf dem Dorfplatz.
Dorfplatz?
So ist der Herrfurthplatz mit der Genezareth-Kirche ursprünglich angelegt gewesen: Als zentraler Treffpunkt in der Mitte des Viertels, zum Versammeln, Kommunizieren und Andacht halten. Nur weil dieser Platz in den letzten Jahren unwirtlich und heruntergekommen war, wurde er immer mehr von Trinkern und Hunden genutzt. Aber eine Anwohnerbefragung des Quartiersmanagements Ende der 90er Jahre ergab: Die Leute wollen, dass dieser Platz wieder für alle da ist. Und sie wünschten sich, dass das Gotteshaus wieder eine größere Rolle spielt. Das war auch der Motor für die Umbaumaßnahmen bis 2006.
Mit Verlaub, aber es ist schwer zu glauben, dass sich in diesen Zeiten die Leute ausgerechnet eine Kirche als Treffpunkt wünschen. Zumal viele Kiezbewohner muslimischen Glaubens sind.
Natürlich sind solche Anwohnerbefragungen immer nur eingeschränkt repräsentativ. Aber in der Genezareth-Kirche finden nicht nur evangelische Gottesdienste statt. Seit dem Umbau ist das Haus auch ein Interkulturelles Zentrum und Treffpunkt für Vereine, Tanzgruppen, Anwohnerversammlungen. Nebenan läuft übrigens gerade ein Deutschkurs für Migrantinnen. Und zu bestimmten Anlässen, wie dem jährlich stattfindenden Abend der Begegnung mit den muslimischen Nachbarn am 6. Dezember, gibt es auch Koranrezitationen in der Kirche.
Vor dem Altar mit Kreuz?
Anfangs gab es durchaus Berührungsängste. Mitarbeiterinnen dachten, dass Deutschkurse hier nicht funktionieren, weil die Teilnehmerinnen jedes Mal durch den Kirchraum müssen. Eine Mädchentanzgruppe forderte sogar von mir, das Kreuz am Altar zu entfernen, weil sie Angst hatten, dass ihre Eltern sonst nicht zur Aufführung kommen. Natürlich blieb das Kreuz hängen - in der Moschee käme man auch nicht auf die Idee, die Koranverse an der Wand zu verhüllen, wenn christlicher Besuch kommt. Aber die Eltern kamen trotzdem. Die Deutschlernenden auch. Neulich kam tagsüber ein Muslim, der dringend ein Gebet verrichten wollte. Der Weg zur Sehitlik-Moschee am Columbiadamm war ihm zu weit. Da schickte ich ihn hinunter in die Krypta.
Ist das erfolgreicher religiöser Dialog, was Sie im Schillerkiez betreiben?
Mit dem Wort "Dialog" bin ich vorsichtig - von einem ergebnisoffenen Gespräch über Glaubensfragen zwischen Religionsvertretern kann bisher kaum die Rede sein. Man will ja das Eigene behalten. Aber von erfolgreichen interkulturellen Begegnungen würde ich schon sprechen. Eine Sternstunde war eine Diskussionsveranstaltung über Stadtentwicklung hier in der Kirche. Als einer der Gäste ausfallend wurde, mahnte ihn ein muslimischer Teilnehmer, doch bitte die Würde des Gotteshauses zu achten. Es gibt Erfolge und viele kleine tägliche Neuanfänge. Wobei die Aufgeschlossenheit auch vonseiten der ethnodeutschen Nachbarn durchaus noch wachsen kann.
Wie meinen Sie das?
Viele der Alteingesessenen sind Menschen, die dem Kiez treu geblieben sind oder es nie geschafft haben, wegzuziehen. Oft sind das Familien, die alle Probleme der Welt auf sich vereinen. Diese Menschen befinden sich in einer gefühlten Minderheitenposition. Sie fühlen sich sozial und ökonomisch an den Rand gedrängt. Und auch weltanschaulich-religiös: Durch die Zuwanderer, die mit einem selbstverständlicheren religiösen Selbstbewusstsein auftreten als sie selbst. Unter diesen, auch spirituell verunsicherten Menschen beobachte ich manchmal tiefsitzende Vorbehalte gegenüber ihren vornehmlich muslimischen Nachbarn.
Sind das auch spirituelle Vorurteile?
Natürlich. Die Abwehrhaltung, die manche gerade Muslimen gegenüber empfinden, entsteht, weil diese Menschen sich oft religiös viel sicherer, aufgehobener fühlen. Das macht natürlich auf die eigenen Defizite aufmerksam. Und wirft unbequeme Fragen auf: Welche Rolle spielen christliche Werte eigentlich in meinem Leben? Fehlt mir ohne Glauben nicht doch etwas? Ich könnte mir vorstellen, dass auch daher eine gewisse Gereiztheit gegenüber den gläubigen Nachbarn rührt.
Welche Rolle spielt die Angst, weiter ins Abseits gedrängt zu werden, beispielsweise durch eine Aufwertung dieses Viertels?
Natürlich sind es im Kern soziale Probleme, von denen die Menschen hier betroffen sind. Auch die Angst vor Veränderung durch Gentrification ist real: Wir diskutieren hier alle viel über die G-Frage. Der Gemeindekirchenrat hat ein Papier dazu erarbeitet, das vor der Kirche aushängt. Darin wird zwar am Ziel einer Wohnumfeldverbesserung festgehalten, aber so, dass "der Kiez attraktiv wird für Menschen, die ausreichend Geld haben, ohne dass die Ärmeren verdrängt werden". Aber es nützt nichts, die Augen davor zu verschließen, dass Geld die Welt regiert. Es wird Veränderung geben - und Veränderungen sind der Atem einer Stadt. Die Frage ist, welchen Gestaltungsspielraum es bei Veränderungsprozessen gibt und wie wir ihn nutzen können.
Sie spielen auf die linken Aktivisten im Kiez an, die einen radikalen Diskurs gegen Aufwertung und Verdrängung führen. Erreichen Sie die auch mit ihrem interkulturellen Dialog?
Man kann nicht alle erreichen. Aber ich lade alle in die Kirche ein. Meine vornehmliche Aufgabe als Pastorin ist, die Menschen in ihrem Glauben zu stärken, dass sie von Gott geliebt sind. Bei meinen Hausbesuchen treffe ich viele, die sich schon lange von der Kirche und von Gott abgewandt haben. Weil es in ihrem Leben nicht gut lief und sie Gott dafür verantwortlich machen. Aber ich stoße immer wieder auch auf verschüttete Reste von Glauben. Ein ehemaliger Fernfahrer erzählte in seinem Wohnzimmer, dass er Gott jeden Morgen und jeden Abend für den Tag danke. Und ein grummeliger Mann aus dem Kiez trat beim Kerzengebet im Gottesdienst vor, zündete eine Kerze an und sprach mit klarer Stimme: "Manchmal ist eine Rose wichtiger als ein Stück Brot" - in der Predigt war von Rosen die Rede gewesen. Bei so was geht mir das Herz auf.
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