taz-Kolumne über Polizei: Die Welt ist nicht schwarz-weiß
Welche Bedeutung hat die Frage, wer spricht? Kaum etwas ist für junge KollegInnen wichtiger als Identität – und das verändert den Journalismus stark.
G leich dreimal kam die taz am Montag in den ARD-„Tagesthemen“ vor. Kein Text der vergangenen Jahre hatte so explosive Wirkung wie die „Müll“-Kolumne der deutsch-iranischen Autor*in Hengameh Yaghoobifarah. Und schon sehr lange hat sich die Redaktion nicht mehr so gestritten.
Nach dem Erscheinen hagelte es interne Distanzierungs- wie Solidarisierungsbekundungen. Und schon bald kam ein Einwurf, der unzutreffend war, aber zeigte, worum es ging: „Interessant finde ich, dass sich bisher ausschließlich Weiße gegen Hengameh positionieren“, schrieb eine Kollegin. Doch tatsächlich verlief der Streit nicht zwischen PoCs – Persons of Color – und Weißen, sondern zwischen intersektional Denkenden, meist jungen KollegInnen, für die Identität eine zentrale politische Kategorie ist, und dem Rest der Redaktion.
Es ist eine Generationenfrage, die den Journalismus tief verändern wird. Die taz hat nur noch nie offen darüber gesprochen. Und das ist gerade ihr eigentliches Problem.
Gelegenheit hätte es etwa 2018 gegeben, als PoCs auf Twitter teils erschütternde Diskriminierungserfahrungen schilderten. Sie benutzten den Hashtag #MeTwo – angelehnt an die feministische #MeToo-Kampagne, nur eben für MigrantInnen, also Menschen aus zwei Kulturen.
Nicht alle waren beeindruckt. taz-Kolumnist Friedrich Küppersbusch muffelte: „Bei #MeDreiundfuffzig wird’s öde. Wenn auch die Linkshänder, Laktoseunverträglichen und gehässig missverstandenen Innenminister ihr Elend an der Welt an ihrer Diskriminierung festgemacht haben“ und „beleidigt in der Ecke sitzen“.
Die taz-Online- und Social-Media-Redakteurin Juliane Fiegler war entsetzt: Sie könne „echt nicht glauben, das macht mich fast sprachlos, dass diese Zeilen einfach durchgegangen sind und niemand ganz laut NEIN, STOPP! gerufen hat“, schrieb sie. Auch sie sei für Meinungsvielfalt. Aber hier gehe es um Rassismus-Erfahrungen. „Und sorry: Zum Thema Rassismus finde ich persönlich nur EINE Meinung ok.“
In diesen Sätzen steckt, wo die Differenzen liegen: In der Frage, was es genau bedeutet, wer spricht. Vor allem jüngere KollegInnen halten dies heute für entscheidend. Das zeigte auch der Tweet einer Kollegin vom Samstag: Sie hätte sich „gewünscht, dass all die White Privilege People“ nichts zu der „Müll“-Kolumne gesagt hätten. „Den Diskurs sollten diejenigen führen, die wirklich etwas zu struktureller Diskriminierung zu sagen haben.“
Einige KollegInnen sahen ein „Redeverbot“ für Weiße anrollen. Ein Irrtum. Denn natürlich wird niemandem verboten zu reden. Erwartet wird vielmehr, sich der Auffassung anzuschließen, nichts zum Diskurs beizutragen zu haben, wenn man keine eigenen Erfahrungen hat – und deshalb freiwillig zu schweigen, anders also als Küppersbusch. So soll die gesellschaftliche Auseinandersetzung stärker von Benachteiligten bestimmt werden können und sich die Dinge deshalb zum Besseren verändern mögen.
Und deswegen „darf“ eine PoC-Autorin wie Hengameh Yaghoobifarah in den Augen intersektional Denkender auch „alles“, wie es hieß. Wer ihr das abspricht – und etwa an der Kolumne herummäkelt –, ist kein guter „ally“, Verbündeter der Diskriminierten, sondern verteidigt seine Privilegien. Und wer ihr das abspricht und selber PoC ist, ist in dieser Lesart ein „token“, also von Weißen manipuliert. Entscheidend ist die Zugehörigkeit zu einem privilegierten oder zu einem unterdrückten Kollektiv. Aus Letzterem soll Definitionsmacht erwachsen – das Recht also, zu bestimmen, was diskriminierend ist. Rassistisch etwa ist demnach, was von einer – im Zweifelsfall einzigen – PoC so empfunden wird. Für intersektional Denkende ist dies zwingend.
Die meisten von ihnen kamen ab etwa 2005 an die Universität und wurden dort politisch sozialisiert, als Identität, Repräsentation und Privilegien zu zentralen Begriffen wurden. Dies geht zurück auf TheoretikerInnen wie den im Mai gestorbenen tunesisch-französischen Soziologen Albert Memmi, der Rassismus früh als Werkzeug zur Verteidigung individueller Privilegien deutete.
Dies prägte, erst kaum beachtet, ab den 1990er Jahren Teile der deutschen Erziehungswissenschaften, vor allem die Erwachsenenbildung, später dann Teile der Queer Studies, der Sozial- und Kulturwissenschaft, der Ethnologie, Critical Race Studies und Critical Whiteness. Seit etwa 2010 hat intersektionales Denken akademische Hochkonjunktur.
Es verbreitete sich derartig schnell, dass seine AnhängerInnen das selber nicht gemerkt haben. Mit dem Verweis auf an Identität gekoppelte Expertise werden heute Diversity-Quoten eingefordert, die „ganz neue Perspektiven“ einbringen sollen.
Faktisch sind PoC noch immer überall da deutlich unterrepräsentiert, wo viel Geld verdient und wichtige Entscheidungen getroffen werden. Gleichzeitig aber sind Unis, Stiftungen, Beratungsstellen, NGOs, Teile des öffentlichen Dienstes und viele Medien heute voller junger AkademikerInnen, die intersektional denken. Dies ist vielerorts nicht marginalisiert, sondern teils längst hegemonial. Und auch dies sind Schaltstellen gesellschaftlicher Macht. Zu sehen war dies jetzt auch daran, wie wuchtig die Solidarisierung mit Hengameh Yaghoobifarah war.
Ältere LeserInnen und RedakteurInnen der taz tun sich damit teils schwer. Einige sehen ihre blinde Flecken, im Weltbild und im eigenen Handeln. Andere sind verunsichert, fürchten Rassismusvorwürfe und fragen sich, wo und wie sie als Weiße mitreden sollen, wenn von ihnen eigentlich nur erwartet wird, „sich über den eigenen Rassismus zu bilden“. Und wieder andere finden, dass die Fixierung auf „Privilegenreflexion“ und Identität viele wichtige Fragen unter den Tisch fallen lässt. Oder sie stoßen sich daran, dass für die Vorstellung gemischter politischer Organisierung und Solidarität in der intersektionalen Vorstellung von Antirassismus wenig Platz ist.
Umgekehrt werfen jüngere KollegInnen den Älteren vor, Anstoß an der „Müll“-Kampagne zu nehmen, weil sie „ihre“ taz beschädige, nicht aber an rassistischen oder sexistischen Karikaturen, die nur andere verletzen. Für sie ist solch zweierlei Maß Ausdruck weißen Privilegs. Und das wollen sie nicht durchgehen lassen.
Was mit der politischen Fixierung auf Privilegien zu gewinnen ist, ist nicht ausgemacht. Diese zielt vor allem auf die Subjekte. Veränderung soll zum einen über moralische Anrufung und die daraus folgende Bereitschaft kommen, unrechtmäßige Vorteile abzutreten. In einer „neoprotestantischen Selbstdisziplinierung“ sollen Weiße ihre Besserstellung aufgeben und „Machtverhältnisse aktiv verlernen“, sagt der Soziologieprofessor und Mitgründer der Gruppe „Kanak Attak“, Vassilis Tsianos, dazu. „Die Organisationsfrage wird nicht gestellt, die Eigentumsverhältnisse werden nicht angetastet.“
Auch Kritik am Staat ist bestenfalls sekundär. Denn der andere Weg, über den intersektional Denkende Veränderungen herbeiführen wollen, ist von oben: Institutionell verankerte Diversity soll nominell Unterprivilegierten – bei denen es sich allerdings ausnahmslos um AkademikerInnen handelt – Zugänge zur Macht verschaffen. „Reformeliten ohne soziale Bewegungen“, sagt Tsiannos.
Eines der Felder dieser Auseinandersetzung sind die Medien. Neben der stärkeren Repräsentation von Minderheiten steht dabei dreierlei im Raum, was aus teils guten Gründen gefordert, bislang aber kaum offen verhandelt wird.
Erstens: Meinungen sollen unterschiedlich behandelt werden, je nachdem, wer sie äußert. Wer unterdrückt wird, hat erst mal recht. Dafür stehen Imperative, die etwa bei #MeTwo zu hören waren: Nicht relativieren, nicht infrage stellen, nicht anzweifeln. Am besten gar nichts sagen. Nur zuhören. Wie viele es sich auch bei der „Müll“-Kolumne wünschten. Zum „nicht kritisieren“ ist es da nicht weit. Für Journalismus, der ohne zu kritisieren nutzlos ist, ist das heikel, für den gesellschaftlichen Dialog auch.
Zweitens: Expertise, die auf eigener Erfahrung gründet, hat Vorrang. Heute ist ausgemacht, dass eine Talkrunde über Rassismus ohne PoCs inakzeptabel ist. Das Schlagwort lautet: Erkenntnisbarrieren. Aber was heißt das für andere Felder?
Drittens: Diskriminierten soll Sicherheit vor Verletzungen garantiert werden. Für den Journalismus heißt dies, sprachliche Gewalt zu unterbinden. Das bekannteste Beispiel ist die Ächtung des verletzenden N-Worts. Die Implikationen gehen allerdings darüber hinaus: Wenn der Gewaltbegriff tendenziell der sozialen Aushandlung entzogen und der individuellen Definitionsmacht übertragen wird, ist er zwangsläufig entgrenzt. Auch ein Satz wie der eingangs geschilderte von Küppersbusch kann dann als rassistisch ausgelegt werden – und müsste folglich gestrichen werden. Extrem heikel.
Dieser Generationenkonflikt wurde in der taz bisher kaum thematisiert. Eine Ausnahme ist ein Text des Kollegen Ambros Waibel aus dem Jahr 2018. Da hielt er der „Alterskohorte 50+“, die „gewiss stets engagiert“ war, vor, den Jungen „politisch ein Riesendesaster hinterlassen“ zu haben. Er empfahl diesen, Jungen „ausnahmsweise mal zu(zu)hören“. Und damit hatte er nicht unrecht. Denn wären frühere Generationen Linker erfolgreicher gewesen, müssten viele Kämpfe heute gar nicht mehr geführt werden.
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