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Wahlkampf der AnkündigungenWarum nichts passiert, obwohl dauernd etwas geschehen soll

Kommentar von Sigrid Weigel

Zentrale Fragen werden in diesem Wahlkampf nicht gestellt. Warum werden so viele drängende Themen gar nicht erst erörtert?

Es muss was geschehen, nur wer macht wirklich was? Foto: Kay Nietfeld/dpa

E s muss etwas geschehen“, das ist der Satz, der gegenwärtig wohl am häufigsten zu hören ist: bei Interviews auf der Straße, in Talkshows und bei Politikerreden. Meist reicht es, einige Städte­namen aufzuzählen, um das Statement zu begründen.

Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg und nun auch noch München … Es muss etwas geschehen! Und dann folgt der Ruf nach neuen Gesetzen. Es ist das immer gleiche Muster: Bei jedem dieser fürchterlichen Terroranschläge überbieten sich Politiker darin, neue, schärfere Regeln zu fordern. Und wenn auch diese Verschärfungen wieder ihre versprochene Wirkung verfehlen, sobald sie auf die Realität stoßen, die so einfach nicht ist, wie es der Ruf nach sofortigem Handeln suggeriert, dann werden beim nächsten Schock, der die Menschen in diesem Lande aufrührt, eben noch schärfere Gesetze gefordert … und so fort: „Es muss etwas geschehen!“

Zwischen der Tat, für die der Ortsname steht, und den Gesetzen aber klafft eine riesige Lücke: eine Lücke des Versagens bei der Nutzung bestehender Regelungen und der Organisation der Situation von Asylsuchenden zwischen Antrag und Entscheidung; ein Mangel, sich die Lage vieler Menschen vorzustellen, die in ihrer Heimat ihres Lebens oder ihrer Existenz nicht sicher sind; ein Zuwenig besonnener Integrationspolitik und mangelnde Achtung vor den Anstrengungen vieler Bürger, die sich für das Auskommen von Geflüchteten engagieren, und vieler Beamter, die trotz Überforderung bemüht sind, das ihre zur Bewältigung der Lage zu tun.

Und so wirkt das Wort Migration – im Kurzschluss zwischen Asylbewerber und Tat derzeit wie ein Tsunami, der alle anderen Probleme wegspült, bei denen ebenso etwas geschehen müsste.

Sigrid Weigel

1950 in Hamburg geboren, war unter anderem Professorin für Literaturwissenschaft in Hamburg, Zürich, Berlin und Princeton, Direktorin des Einstein Forums Potsdam und des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL). 2019 erschien ihr viel beachtetes Essay, in dem sie die auswärtige Kulturpolitik schonungslos kritisierte.

Eine lange Liste

Palisades, Los Angeles, Valencia, Ahrtal, Rio Grande do Sul, Kenia, Somalia, Florida und, undm und … Außer den unzählig vernichteten Leben und zerstörten Existenzen werden die weltweiten Schäden durch klimabedingte Katastrophen allein im ersten Halbjahr 2024 auf 120 Milliarden US-Dollar geschätzt. Es muss etwas geschehen!

Nahezu jeden Tag wird in Deutschland eine Frau getötet, davon fast 70 Prozent in den eigenen vier Wänden. Alle drei Minuten wird ein Mädchen oder eine Frau Opfer häuslicher Gewalt … Es fehlen 14 Tausend Frauenhausplätze in Deutschland. Es muss etwas geschehen!

Viele Schulen in Deutschland sind marode. In den Hochschulen sind etliche Labore, Seminarräume und ganze Gebäude wegen Sanierungsbedarf geschlossen. Es muss etwas geschehen!

Es fehlen nach Schätzung des Pestel-Instituts in Deutschland über eine halbe Million Wohnungen, vor allem Sozialwohnungen und bezahlbare Mietwohnungen. Es muss etwas geschehen!

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Lauter Schuldzuschreibungen

Nach Berechnung des „Instituts der deutschen Wirtschaft“ fehlen in Deutschland mehr als 300 Tausend Kita-Plätze. Es muss etwas geschehen!

Nach Auskunft des BMWK 2014 entfallen auf die oberen 10 Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des Vermögens, auf die unteren 50 Prozent dagegen 2,3 Prozent, wobei die Verteilung in den vergangenen Jahren sich stetig zugunsten der oberen 10 Prozent verschoben hat. Es muss etwas geschehen!

Fast jeder sechste Arbeitnehmer in Deutschland erhält einen Niedriglohn (derzeit weniger als 13,79 pro Stunde), das sind 16 Prozent der Beschäftigten. Im EU-Vergleich steht Deutschland beim Anteil des Niedriglohnsektors an sechster Stelle der 27 EU-Länder, hinter Lettland, Litauen, Estland, Polen, Bulgarien. Gleichzeitig heißt es, der Produktionsstandort Deutschland sei nicht wettbewerbsfähig. Was ist da geschehen?

2024 stieg die Zahl der Insolvenzen in Deutschland um fast 17 Prozent und das Bruttoinlandsprodukt sank um 0,2 Prozent. Es droht ein enormer Stellenabbau, gleichzeitig stiegen die Gewinnausschüttungen der DAX-Konzerne 2023 und 2014 auf Rekordniveau. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist die Inflation nicht steigenden Löhnen geschuldet, sondern den steigenden Gewinnmargen. Trotzdem klagen BDI, Gesamtmetall und andere Wirtschaftsverbände über ein Investitionstief in Deutschland und fordern: „Die Politik muss handeln, und zwar schnell“ (BDI). Die DSW kommt auf Grundlage einer breit angelegten Datenanalyse zum Ergebnis, die Krise sei durch die Unternehmen selbst verschuldet. Sie hätten die letzten 20 Jahre verschlafen. Wo muss da etwas geschehen!

„Untersuchungen zeigen, dass für unseren Wohlstandskonsum pro Deutschen durchschnittlich 50 Menschen in den Entwicklungsländern unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten müssen“, so der ehemalige Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller (CSU), in einem Interview 2019, der forderte: „Das muss ein Ende haben.“

Natürlich ist diese Liste, die im Schatten des erhitzten Streits um die Migration steht, keineswegs vollständig. Politik im substanziellen Sinne beginnt allerdings erst dort, wo der Zusammenhang all dieser Probleme erörtert wird. Der ist aber im aktuellen Wahlkampf der Überbietungen und gegenseitigen Schuldzuschreibungen vollends abhandengekommen.

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8 Kommentare

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  • Heute habe ich in Ravensburg folgenden gesprayten Spruch auf einem Merz-Plakat gelesen: "Mal einfach netter sein! Das Problem sitzt nicht im Schlauchboot, sondern im Privatjet!"

    Da zu erwarten steht, dass der Besitzer des Privatjets Kanzler wird, rechne ich damit, dass weiterhin auf die falschen Fragen die falschen Antworten kommen werden, während die wahren Probleme - wie im Kommentar richtig beschrieben - wieder ungelöst bleiben.

  • Ja, es ist richtig, dass deutlich mehr passieren müsste als das, was zur Zeit die Diskussion dominiert.



    Allerdings hilft dabei auch kein Festklammern an alten Vorstellungen.



    Die aktuelle und zukünftige Situation erzwingt neues Denken und klare Prioritäten.



    Der erste Schritt wäre die allgemeine Erkenntnis, dass mit zunehmender Schwächung der wirtschaftlichen Basis der Wohlstand in der EU und D weiter deutlich abnehmen wird, was auch die Handlungsoptionen für alle Bereiche einer Gesellschaft (nicht nur Außenpolitik) eingrenzt.

  • Um uns herum verändert sich die Welt im Stundentakt, wechselt der wichtigste Verbündete ins Lager der Autokraten, sind Freiheit und Demokratie unter Dauerbeschuss, wird Europa zur nicht mitspracheberechtigen Landmasse degradiert, verschwindet der Alte Kontinent in der politischen Bedeutungslosigkeit.



    Derweil streiten unsere Politiker leidenschaftlich über Asylanten und andere Trivialitäten, ganz so als stünden Deutschland und Europa nicht im Zentrum der tosenden Orkans als wäre wir nicht die ersten Leidtragenden diese Spiels um globale Vorherrschaft.

  • Es hat gut getan, diesen Artikel zu lesen. Vielen Dank dafür.



    Er musste einfach mal geschrieben werden!!

  • Leider gibt der Artikel keine Antwort auf die eingangs gestellte Frage "Warum werden so viele drängende Themen gar nicht erst erörtert?" Die muss sich der Leser wohl selbst beantworten...

  • Das trifft den Nagel auf den Kopf, Frau Weigel.

  • "Es muss etwas geschehen“, hörte ich auch in meiner Kommune. Also erstellte ich eine Liste mit 20 Vorschlägen, für die ich von vielen bewundert wurde. Tolle Ideen. Dann kam der Parteidiktator und schaute sich die Liste an, lachte süffisant und legte sie zur Seite. Haben wir schon 1980 probiert, funktioniert nicht. Und diese Idee? Geht nicht, sowas wollen die Leute nicht. Usw. Alles Gestrichen, inkl. der Begeisterung für die Ideen. Parteigleichschritt und diktatorische Unterwerfung, überall. Derzeit am besten zu beobachten in der US Politik.

    So funktioniert Deutschland.