talk of the town: Alles viel zu simpel
Ein neuer Bericht legt dar, was bei dem verheerenden Brand des Grenfell-Towers in London 2017 schiefgelaufen ist. Das Dokument ist in seiner Klarheit schockierend
Aus London Daniel Zylbersztajn
Im Londoner Parlament, sonst so turbulent, erheben sich die Abgeordneten zu einer Schweigeminute. Die Debatte eröffnet Premierminister Boris Johnson selbst, mit gedämpfter Stimme, er spricht von Respekt für die Überlebenden und über deren Kampf um die Wahrheit. Aber der ist immer noch nicht zu Ende.
Anlass ist an diesem Mittwoch ein Untersuchungsbericht von 1.000 Seiten, aufgeteilt auf vier Bände – das Ergebnis der ersten Phase der Untersuchung über den Brand des Grenfell-Towers –, der am Mittwoch morgen veröffentlicht worden ist. Es geht um den Tod von 72 Menschen beim Inferno in dem Londoner Hochhaus im Juni 2017.
„Nie wieder“, das ist eine der zentralen Forderungen der Überlebenden und Angehörigen. Der Bericht müsse dafür sorgen, „dass niemand mehr in derartigen Gebäuden schlafen muss“, heißt es in einer Erklärung.
Der Bericht selbst ist Ergebnis einer Untersuchung unter Leitung des pensionierten Richters Sir Martin Moore-Bick. Nach wie vor geht es um die Frage, wie es zum dem Desaster überhaupt kommen konnte. Einige Grenfell-Überlebende – wie etwa Paulos Tekle, der seinen fünfjährigen Sohn in den Flammen verlor – sehen unter anderem die Feuerwehr in der Mitverantwortung, andere sehen die Schuld auch bei der Notrufzentrale, wie die Eltern der 12-jährigen Jessica Urbano Ramirez, die stundenlang und alleine den Anweisungen des Notrufs folgte, in der Wohnung zu warten, obwohl das Hochhaus lichterloh brannte.
Der Bericht nennt als Ursache des Brandes „nichts weiteres als ein gewöhnliches Küchenfeuer“ und betont, dass den Bewohner der Wohnung, in der das Feuer ausbrach, keine Schuld trifft. Manch anderes war indes schon bekannt: dass die Fassadendämmung das Feuer verstärkte, dass die Feuertüren sich nicht von selber schlossen. Offiziell festgestellt ist jetzt aber das Fehlverhalten der Brandbekämpfer. Die Vorbereitungen der Londoner Feuerwehr, schreibt Moore-Bick, seien „vollkommen inadäquat“ gewesen – ein Zitat, das schon seit Anfang dieser Woche in die britischen Medien leakte. Dem Feuerwehrpersonal habe ein Training über die spezifischen Gefahren mit brennbarer Dämmung gefehlt. Und niemand habe rechtzeitig erkannt, dass der Tower hätte evakuiert werden müssen. Wäre diese Entscheidung früher getroffen worden, „hätte es zum Verlust von weniger Menschenleben geführt“. Auch die Kommunikation innerhalb der Feuerwehr funktionierte offenbar schlecht. Die Brandbekämpfer vor Ort erfuhren nicht, wo genau sich Menschen im Tower befanden. Der Evakuierungsplan der städtischen Hausverwaltung war 15 Jahre veraltet.
Was die Wut der Überlebenden verstärken dürfte und umso fassungsloser macht: Die Empfehlungen von Sir Moore-Bick, wie man künftig ein solches Desaster vermeiden könnte, enthalten, nun ja, eigentlich Selbstverständliches: detaillierte, digital zugängliche Informationen für die Feuerrettungsdienste über Bau- und Renovierungsmaterialien, Baumethoden und Rettungspläne; Inspektionen und Training zu Hochhäusern; Feuertüren. Jede Wohnung brauche Feuerlöscher, steht da, jedes Hochhaus ein Sprinklersystem. Und Moore-Bick empfiehlt das Entfernen brennbarer Polyethylen-Dämmung – die hängt nämlich noch an bis zu 400 Hochhäusern gleicher Art in Großbritannien. Über ein vollkommenes Verbot, so wie es einige verlangten, könne aber erst in der nächsten Phase der Untersuchung entschieden werden.
Und nun? Die Aufarbeitung ist lange nicht beendet. Neben der öffentlichen Untersuchung läuft noch eine polizeiliche und eine gerichtsmedizinische. Anklagen der Staatsanwaltschaft lassen derweil auf sich warten. Im Juni erklärte die Polizei, dass sie Anklagen nicht garantieren könne. Währenddessen müssen Londoner*innen weiter mit der bangen Frage leben, was wohl passiert, falls ihr Hochhaus brennt.
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