: "Der Jugend gebührt ein riesiger Orden"
■ Trotz schlechter sozialer Lage hat die Jugendgewalt nicht zugenommen. Streetworker klagen über das negative Jugendbild in der Öffentlichkeit
Elvira Berndt (36) ist Geschäftsführerin von Gangway e.V. Für das größte Streetwork-Projekt der Stadt arbeiten 41 SozialarbeiterInnen in 13 Bezirken. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Jugendliche im öffentlichen Raum.
taz: Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Jugendkriminalitätsbericht 1997?
Elvira Berndt: Nach den Zahlen ist die Jugendkriminalität rückläufig. Auch aus unserer Erfahrung hat Jugendgruppengewalt eindeutig abgenommen. Es gibt keine Straßengangs mehr, keine großen agierenden Gruppen. Dieser Trend besteht schon seit 1995. Es gibt einen Rückgang der Vorgänge, die bei der Polizei eingegangen sind, und derjenigen, die der Justiz schließlich vorgeführt und/ oder verurteilt werden.
Auffällig in bezug auf Jugendgruppengewalt ist, daß es erstmals mehr deutsche Tatverdächtige als im Vorjahr gibt, obwohl die Zahl insgesamt rückläufig ist. Das Märchen, daß immer mehr ausländische Jugendliche gewalttätig werden, ist statistisch also überhaupt nicht belegbar. Die türkischen Jugendlichen sorgen dafür, daß die Zahlen nach unten gehen. Anfang der 90er Jahre war das Gewaltpotential bei diesen Jugendlichen wesentlich höher.
Woran liegt das?
Die großen Gruppierungen mit hohem Anpassungsdruck und einer entsprechenden Gruppendynamik gibt es nicht mehr. Manchmal tritt auch ein Lerneffekt auf, wenn die Jugendlichen sehen, was aus den Älteren geworden ist. Wer in den Knast gewandert ist oder es geschafft hat, einen Job zu bekommen. Heute sind die Gruppen kleiner und mobiler.
In dem Bericht werden auch sogenannte Brennpunkte genannt, an denen sich die verschiedenen Gruppierungen treffen. Ihre Streetworker müßten da doch bestens informiert sein. Stimmen die Einschätzungen der Polizei?
Nein. Hier wurden viel zu viele Orte zu Brennpunkten gemacht, die eigentlich keine sind. Zum Beispiel der Nauener Platz in Wedding. Dort gab es einmal eine Auseinandersetzung von Jugendlichen mit der Polizei, daraufhin wurde der Platz flugs zum Brennpunkt. Die Auseinandersetzung wurde durch ungeschicktes Verhalten der Polizei mitverursacht, das haben sie später sogar zugegeben. Wie diese Orte erhoben wurden, kann ich nicht sagen. Vielleicht durch das Anzeigenverhalten oder durch das subjektive Gefühl der Streifenpolizei.
Aber es gibt doch auch Kriminalitätsbereiche, wo die Zahlen nach oben gegangen sind?
Bei Heranwachsenden und Kindern hat sich der Ladendiebstahl und das sogenannte Erschleichen von Leistungen verstärkt. Dabei handelt sich in den meisten Fällen um Schwarzfahren oder um das Fahren mit einem nichtversicherten Auto. Man muß sich die Zahlen sehr genau angucken. Denn in dem Bericht wird lediglich mit Tatverdächtigen operiert. Das heißt noch lange nicht, daß diese auch tatsächlich Täter sind. Wenn ein Delikt aufgenommen wird, an dem mutmaßlich 15 Jugendliche beteiligt waren, es aber faktisch nur einer war, dann erscheint in der Statistik die Zahl 15.
Natürlich schlägt sich in der Tatverdächtigenstatistik auch nieder, wenn durch öffentliche Sensibilisierung oder den Einsatz von Sonderkommissionen verstärkt Anzeigen gemacht werden. Das ist bei Grafitti-Sprayern zu beobachten. Wenn die Tatverdächtigenzahlen steigen, heißt das noch lange nicht, daß auch die Kriminalität steigt.
Die soziale Lage hat sich aber doch ziemlich verschlechtert. Eigentlich müßte die Kriminalität da doch hochgehen?
Diese Tendenz ist wirklich erstaunlich. Viele Jugendliche haben keine „Freizeit“ mehr, sondern 24 Stunden Zeit am Tag, die sie weder ökonomisch noch sonstwie sinnvoll ausfüllen können.
Deshalb müßte sich die Kriminalität zumindest bei Eigentumsdelikten verstärken. Das ist aber nur begrenzt der Fall. Der Jugend dieser Stadt gebührt dafür eigentlich ein riesiger Orden. Viele bringen sehr viel Kraft auf, um eine Chance in der Gesellschft zu bekommen. Also auch die achtzigste Bewerbung trotz Frustration noch loszuschicken. Ich finde es sehr schade, daß das öffentlich so nicht diskutiert wird, daß nicht auch mal ein positives Jugendbild geprägt wird. Vielleicht braucht man das schlechte Bild, um schärfere Repressionen anzuwenden und härtere Gesetze durchzusetzen.
Wird der positive Trend der Kids anhalten?
Das sind immer Wellenbewegungen. Natürlich haben wir auch Zweifel, wie lange diese Vernunft anhält. Es kann der Punkt kommen, wo viele mit den Füßen abstimmen und das Gefühl bekommen, daß ihr Ehrgeiz sinnlos wird. Dann kann sich die Statistik drastisch verändern. Interview: Julia Naumann
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