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portraitSie wilderte in allen Lagern

Setzen Sie sich doch auf meinen Stuhl, dann sehen wir mal, ob Sie all das realisieren, was Sie sich wünschen.“ Ein gutes Jahr ist vergangen, seit der damalige Bürgermeister von Turin, Piero Fassino, seiner Gegenspielerin Chiara Appendino voll Sarkasmus diesen Vorschlag machte. Seine Wiederwahl hielt er für sicher – doch nach ihrem Triumph vom Sonntag sitzt Appendino jetzt tatsächlich auf Fassinos Stuhl.

Fast 55 Prozent der Turiner wählten die Frau, die seit fünf Jahren für die 5-Sterne-Bewegung im Stadtrat sitzt, nun zur Bürgermeisterin. Appendino trat zwar für Beppe Grillos Anti-Establishment-Bewegung an, aber im Habitus ist sie weit entfernt von dem kon­stant furiosen, stets polternden Komiker.

32 Jahre jung, Spross einer Managerfamilie, Wirtschaftsstudium an einer Privatuniversität, dann Managementpraktikum bei Juventus Turin und heute im Unternehmen ihres Mannes tätig: Appendino ist kein Bürgerschreck, sondern eine Vertreterin des Turiner Bürgertums. Wird sie dafür als Streberin geschmäht, kontert sie, sie habe ihre Hausaufgaben „immer die abschreiben lassen, die in Schwierigkeiten waren“.

Durch akribischen Fleiß und präzise Aktenkenntnis fiel die kirchlich getraute Mutter eines sieben Monate alten Kindes im Stadtrat schon in Oppositionsjahren auf. Zu jenen Vertretern des Movimento5stelle, die – ganz auf den Spuren Grillos – mit überbordenden Attacken und lauten Tönen gegen die politischen Gegner zu Feld ziehen, gehörte sie nie. Appendino lächelt lieber. Und argumentiert gern leise.

Damit ist sie problemlos auch für bürgerliche Wähler akzeptabel – machte sich aber zugleich mit Erfolg zur Sprecherin der abgehängten Stadtrandviertel, in denen die Arbeitslosigkeit grassiert. Außerdem stellte sie Linken und Ökologen wichtige Themen wie die Gegnerschaft zu der neuen Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecke Turin–Lyon in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs – und wilderte damit spätestens im zweiten Wahlgang in allen politischen Lagern.

Da überrascht es nicht, dass Appendino sich nach ihrem Wahlerfolg ganz staatsmännisch gab und erklärte, sie wolle „Bürgermeisterin aller Turiner“ sein. Michael Braun

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