lupfen, muckireiten, eierkraulen von HARTMUT EL KURDI:
Gern wird zurzeit behauptet, dass in puncto Jugendgewalt früher alles halb so schlimm gewesen sei. Zwar habe es immer schon „Schulhof-Raufereien“ gegeben, aber dabei sei es nicht um die Vernichtung des Gegners gegangen, sondern um ein halbwegs faires Kräftemessen, und spätestens, wenn jemand zu Boden gesunken sei, hätte der Überlegene abgelassen. Auch wenn an dieser These etwas dran sein sollte, stellt sich dennoch die Frage, ob damit nicht das Leiden Tausender Gewaltopfer verharmlost und ihr Andenken in den Schmutz gezogen wird? Meins zum Beispiel.
Verlassen wir einmal das graue Feld der Theorie und wenden wir uns der grauen Realität meiner Siebzigerjahre-Kindheit zu. Wir befinden uns in Kassel-Helleböhn, einer Art westdeutscher Plattenbausiedlung, bevölkert von einem Gemisch aus VW-Arbeitern, Sozialhilfeempfängern und Serienkillern. Das Harmloseste, was einem dort zustoßen konnte (abgesehen vom „Muckireiten“ und „Eierkraulen“), war das so genannte Lupfen. Und das ging so: Man stand verängstigt auf dem Schulhof der Fridtjof-Nansen-Schule herum, plötzlich tauchte aus dem Nichts eine Horde Hunnen auf und zelebrierte das Unvermeidliche. Während einige Schergen den Delinquenten festhielten, näherte sich der Lupf-Boss seinem Opfer von der Seite, griff gleichzeitig von vorne und hinten in dessen Hose, um jeweils einen Zipfel des Schlüpfers zu erwischen. Hatte er die U-Hose beidseitig in festem Griff, wurde „gelupft“, d. h., er riss seine Arme ruckartig in die Höhe, sodass das arme, gelupfte Schwein den Boden unter den Füßen verlor. Kurz absetzen und wieder lupfen. Bis zu 15-mal. Dabei schnitt die Unterhose sägezahnartig in die Arschritze und den Hodensack. Bis heute weiß ich nicht, ob diese Folterpraxis in Helleböhn entwickelt oder von südamerikanischen Diktaturen übernommen wurde. Sehr wohl weiß ich jedoch, dass mein Freund Olli dabei einen Hoden verlor. So viel zum Thema Harmlosigkeit. Allerdings erzählte mir meine Mutter neulich, dass Olli inzwischen drei Kinder habe. Ich hab nur eins. So kann’s kommen.
Ansonsten beschränkte sich die erlebte Gewalt meist auf ein fast tägliches, mindestens wöchentliches Auf-die-Fresse-gehauen-Werden. Gründe hierfür gab es viele: weil man klein war, weil man scheiße aussah, weil man existierte, weil es keinen Gott gab. Richtig ist allerdings, dass man selten geschlagen wurde, wenn man auf dem Boden lag. Das lag aber daran, dass ein Schlägerkommando immer aus drei Leuten bestand: zwei hielten fest, bis der Chef keine Lust mehr zum Hauen hatte, dann wurde gewechselt. Auf den Boden fiel man erst am Ende. Wenn man losgelassen wurde.
Bleibt nur noch zu erwähnen, wie ich einmal, inzwischen sechzehn und langhaarig, versuchte deeskalierend zu wirken. Als mich auf dem Weg zum Bus drei gleichaltrige Selbsttätowierer mit dem Klassiker „Ist was?“ anrempelten, fragte ich in meinem hippiehaft erweichten Hirn: „Warum seid’n ihr so aggressiv?“ An diesem Tag lernte ich, dass man auch Schleimhäute nähen kann.
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