heute in hamburg: „Die Betroffenen werden allein gelassen“
Online-Vortrag „Kein Einzelfall –Rechtsradikale Realitäten in Deutschland“ von Dr. Massimo Perinelli zum NSU-Komplex und zur Migrantifa: 19 Uhr, kostenlose Anmeldung unter www.kampnagel.de
Interview Emmy Thume
Herr Perinelli, was ist die Migrantifa?
Massimo Perinelli: Der Begriff meinte den gemeinsamen Auftritt von Refugees, migrantischen selbstorganisierten Gruppen und Antifas, die 2019 zusammen als „We’ll come united“-Block auf der „#unteilbar“-Demo in Dresden gelaufen sind. Nach dem rassistischen Anschlag in Hanau haben sich viele, meistens jüngere migrantische Menschen zusammengetan, die diesen Begriff mittlerweile wie eine Bewegung verwenden, aber teilweise auch in einem anderen Sinne. Der Begriff ist also umkämpft, meint aber vor allem migrantische Selbstverteidigung.
Wie kommt es, dass migrantische Gruppen in ihrer Erinnerungspraxis und ihrem Wissen nach wie vor marginalisiert werden?
Immer schon gibt es migrantische Kämpfe gegen Entrechtung, die sich auch unterschiedlich durchgesetzt haben. Die Situation heute, mit der Erinnerungskultur, die sichtbar werden muss, ist noch von den 90er-Jahren und den damals starken Angriffen gegen Migrant*innen geprägt. Ausgehend vom NSU-Komplex haben wir jetzt zehn Jahre Organisierung von Betroffenen rassistischer Gewalt, die sich für Aufmerksamkeit für Betroffene einsetzen. Bedenkt man, wie das vor zehn Jahren noch ignoriert wurde, hat sich das inzwischen verbessert. Mittlerweile hört man ihnen zu und gibt ihnen eine Bühne. Das ist Ausdruck des Kampfes um Erinnerungspolitik und Sprechpositionen.
Kann man vor diesem Hintergrund von einer „rechtsradikalen Realität“ sprechen?
Es gibt die Realität des strukturellen Rassismus bis hin zu Nazi-Terror, der sehr stark ist und seit 2016 wieder ungeheuer an Fahrt aufgenommen hat. Aber es gibt gleichzeitig auch die Realität gesellschaftlicher Solidarität und der migrantischen Selbstorganisierung, die gerade auch sehr stark ist.
Was ist das Problem im politischen Umgang damit?
Massimo Perinelli 51, ist Historiker, Referent und Aktivist und arbeitet im Bereich Migration für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Das Problem ist das Ineinandergreifen verschiedener rassistischer Phänomene, das die Betroffenen alleine lässt. Es gibt mordende Nazis und die Polizei, die nicht nach rechts ermittelt. Außerdem die Politik, die nicht inklusiv ist. Das ist eine starke rassistische Formation: das Fremdmachen der Opfer, sie nicht zu entschädigen, sondern gegen sie zu ermitteln. Das kommt aus der Mitte der Gesellschaft und ermöglicht erst Nazi-Terror.
Wieso wird nach all den Jahren, in denen weitere rechtsradikale Netzwerke aufgedeckt wurden, immer noch so oft von Einzelfällen gesprochen?
Wenn man nicht von Einzelfällen redet, müsste man genau diese Struktur in den Blick nehmen. Man müsste dann über NSU 2.0, Rassismus in Polizei und Verfassungsschutz reden. Und von Rassismus wird da eben nicht gesprochen. Trotzdem finde ich, hat sich das jetzt, nach Hanau, verändert, was ein Ausdruck der starken Organisierung der Betroffenen in den letzten Jahren ist.
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