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Gaza-TagebuchFür die Machthaber sind wir nur Nummern

Unser Autor in Gaza sehnt sich nach Liebe und Lachen. Doch Israel bombardiert – und die Hamas kümmert sich nicht um das Leid der Palästinenser.

Khan Junis, Gaza, 15. Mai: Kinder inspizieren ein zerstörtes durch israelische Luftangriffe Haus Foto: Abdel Kareem Hana/ap

J eden Tag wachen wir mit der Nachricht von einer weiteren Vertreibungswelle auf – wieder eine Familie, die ihr Haus verloren hat, wieder ein Krankenhaus, das bombardiert wurde, wieder ein Kind, das verhungert ist. Keiner weiß mehr, wohin er gehen soll. Die Menschen ziehen von einem Ort zum anderen, mit kleinen Taschen und schweren Seelen. Die Menschen fragen: Bis wann? Wann wird diese Hölle enden? Aber es gibt keine Antwort.

Die Krankenhäuser in Gaza funktionieren nicht mehr. Sie sind Gebäude ohne Kapazität – keine Medikamente, kein ausreichendes Personal. Jeden Tag greift die Besatzung eine andere medizinische Einrichtung an. Ärzte werden unter den Trümmern hervorgeholt, anstatt Leben zu retten.

Und niemand unternimmt etwas. Kein Sicherheitsrat, keine internationalen Organisationen. Nur Erklärungen der Besorgnis, während die Bilder unseres Todes wie ein langweiliger, endloser Film über die Bildschirme der Welt flimmern.

Seit über 80 Tagen ist keine Nahrung mehr nach Gaza gelangt. Mehl ist ein rares Gut geworden. Selbst Nudeln, einst eine einfache Mahlzeit, sind jetzt ein Luxus. Wir sind dazu übergegangen, Nudeln über Nacht einzuweichen und sie mit dem Mehl, das wir noch haben, zu Brot zu verarbeiten.

Die Worte sind uns ausgegangen

Wir sind keine Köche, die neue Rezepte erfinden – wir sind Überlebende, die versuchen zu essen. Unsere Kinder verkümmern. Unsere Frauen weinen im Stillen. Unseren Ältesten sind die Worte ausgegangen.

Es reicht, wir sind erschöpft. Wir haben uns diesen Tod nicht ausgesucht. Wir haben uns nicht ausgesucht, unter der Besatzung geboren zu werden, und wir haben nicht darum gebeten, von einer Regierung regiert zu werden, die nichts für uns empfindet.

Die Besatzung behauptet, ihr Krieg diene dazu, die Hamas aus dem Gazastreifen zu vertreiben, aber jeder, der genau hinschaut, sieht die Wahrheit: Israel tötet nicht nur im Gaza­streifen, sondern auch im Westjordanland – wo die Hamas nicht an der Macht ist. Es handelt sich nicht um einen Krieg gegen eine Bewegung, sondern gegen die Palästinenser, gegen unsere Existenz, gegen unsere Menschlichkeit.

Gleichzeitig können wir nicht schweigen, wenn die Hamas zu unserem Schmerz schweigt. Diejenigen, die Gaza regieren, hören unsere Schreie nicht. Sie sehen nicht die Leichen auf den Straßen, die Mütter, die alles verloren haben.

Wut auf die Hamas

Erst vor zwei Tagen hat uns der Hamas-Sprecher Sami Abu Zuhri mit seiner Aussage angeekelt, dass „Häuser wieder aufgebaut und Märtyrer reproduziert werden können“. Welche größere Beleidigung könnte es geben? Was ist das für eine Führung, die uns als Nummern betrachtet, genau wie die Besatzung? Wir wollen nicht, dass solche Leute uns regieren.

Die ganze Welt schaut zu. Sie zählen: wie viele Tote, wie viele Vertriebene, wie viele Tage unter Belagerung. Wir sind nichts als Statistiken, keine Seelen.

Aber wir wollen leben. Wir wollen richtiges Brot essen, ohne zu improvisieren. Wir wollen durch die Straßen gehen, ohne das Dröhnen der Kriegsflugzeuge zu zählen. Wir wollen lieben, lachen, bauen und träumen.

Aber jetzt suchen wir nur noch nach einem Ausweg aus diesem Ort, den alle aufgegeben oder verlassen haben – getötet von der Besatzung, zum Schweigen gebracht von unserer Regierung, ignoriert von der Welt.

Schreiben, um nicht in der Stille zu verschwinden

Ich schreibe nicht, um Mitleid zu erregen. Ich schreibe, weil der Wahnsinn beginnt, uns zu verschlingen. Ich suche nach einer Möglichkeit, mit meiner Familie auszuwandern, weil wir nicht mehr können. Wir leben alle am Rande des Abgrunds. Wir wollen hier nicht sterben. Wir wollen nicht so leben. Wir wollen als menschliche Wesen behandelt werden.

Gaza ist nicht nur ein „Sicherheitsdossier“, wie sie es nennen, und auch kein Verhandlungsobjekt in endlosen Verhandlungen. Gaza – das sind Häuser, Gesichter, Geschichten, das Brot, das wir nicht finden können, und das Lachen, das gestorben ist. Wir schreiben, weil das Schreiben alles ist, was wir noch haben. Wir schreiben, damit wir nicht in der Stille verschwinden.

Mohammad Jabarin (34) kommt aus Gaza Stadt und musste mehrmals während des ­Krieges ­fliehen.

Internationale Jour­na­lis­t*in­nen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.

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