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freun­di*n­nen­schaft (6)„Solange wir nicht sterben, reisen wir“

In Berlin-Wedding treffen sich seit mehr als 30 Jahren Seniorinnen in der Frauengruppe Dostluk. Das türkische Wort für Freundschaft ist nicht nur Gruppenname, sondern Programm

Hamiyet Ceylan, Gül Selcan, Sakine Aslan, Ayten Civan, Fatma Kalkan und Semiha Yalçıner Foto: privat

Von Elisabeth Kimmerle

An Gleis 10 im Berliner Bahnhof Gesundbrunnen, wo die Züge aus der Stadt hinausfahren, füllt sich der Bahnsteig mit Menschen, als alle da sind: acht Frauen aus der Seniorinnengruppe Dostluk, die an diesem Freitagmorgen im Januar ans Meer wollen. Hamiyet Ceylan hat die Zugverbindung nach Stralsund ein paar Tage zuvor in der Whatsapp-Gruppe geteilt: „Wer will mitkommen?“ Treffpunkt war 20 Minuten vor Abfahrt, nun ist die Gruppe vollzählig: Hamiyet Ceylan, Gül Selcan, Sakine Aslan, Fatma Kalkan, Veciha Koçak, Kıymet Arslan, Ayten Civan und Semiha Yalçıner – die Jüngste 49, die Älteste 77. Im Regionalzug parkt Sakine Aslan ihren „Mercedes“, wie sie ihren Rollator nennt, im Fahrradabteil und die Frauen verteilen sich auf die freien Plätze.

Die Gruppe bewegt sich synchron, dies ist nicht ihre erste Reise nach Stralsund, sondern mindestens die fünfte. „Dostluk“, das türkische Wort für Freundschaft, ist nicht nur der Name der Gruppe, sondern auch ihr Fundament. Hier treffen sich seit mehr als 30 Jahren jeden Mittwoch Seniorinnen zum Frühstück, die mehr verbindet als ihre Herkunft. „Wenn du in einem fremden Land lebst, bist du eng miteinander verwoben“, sagt Hamiyet Ceylan. Es ist eine tiefe Verbundenheit, die entstanden ist aus geteilten Lebenswegen – aber auch aus der Freude, gemeinsam die Welt zu erkunden.

Einmal pro Woche ein Ausflug

Die meisten der rund 35 Frauen, die mittwochs gemeinsam frühstücken, sind als Arbeitsmigrantinnen in den sechziger und siebziger Jahren nach West-Berlin gekommen und haben ihr Leben lang in Fabriken, Küchen und Krankenhäusern gearbeitet. Heute sind sie in Rente und wollen etwas erleben. Deshalb machen sie einmal in der Woche einen Ausflug. Sie fahren so weit, wie sie an einem Tag kommen, morgens hin und abends zurück: an die Ostsee oder nach Dresden auf den Weihnachtsmarkt, nach Hamburg, Warnemünde oder Lutherstadt Wittenberge. Heute geht es raus aus der Stralsunder Straße in Berlin Wedding – nach Stralsund.

„Als das Deutschlandticket kam, haben wir uns gesagt: Wer hält uns auf? Wir fahren überallhin“, sagt Gül Selcan. Die 69-Jährige kam 1972 mit 18 Jahren nach Nassau, um beim Haushaltswarenhersteller Leifheit zu arbeiten. Eigentlich wollte sie nach West-Berlin zu ihrer Schwester, doch im deutschen Anwerbebüro in Istanbul sagte man zu ihr: „Das ist hier kein Reisebüro.“ 50 Jahre später fährt Gül Selcan mit dem Zug, wohin sie will. „In Hamburg waren wir am häufigsten“, sagt sie und Hamiyet Ceylan fügt hinzu: „In dem Fischladen in Billstedt sind wir inzwischen Stammkundinnen.“ Manchmal fahren sie nur nach Hamburg, um ein Fischbrötchen zu essen.

Der Zug nach Stralsund ist an diesem Freitagmorgen voller verkniffener Gesichter. Die Gruppe von acht älteren Frauen, die sich auf Türkisch unterhalten und scherzen, erntet Blicke, manche neugierig, manche missmutig. Hamiyet Ceylan glättet Spannungen wie ein Bettlaken. Sie wendet sich auf Deutsch an ihren Sitznachbarn und spricht aus, was in der Luft liegt: „Sag Bescheid, wenn dich unser Gespräch stört.“ Sein Gesicht hellt sich auf, er wiegelt ab. „Wir begegnen auf unseren Ausflügen auch Menschen, die Mi­gran­t*in­nen nicht mögen“, sagt Ceylan. „Wenn es sein muss, wissen wir uns zu verteidigen und verhalten uns dementsprechend.“ Später auf der Rückfahrt werden die Frauen als Einzige im Abteil die drei Po­li­zis­t*in­nen fragen, warum sie zum zweiten Mal zwei Männer mit dunklen Haaren kontrollieren und niemand anderen. Nach außen tritt die Gruppe geschlossen auf, nach innen gibt sie Rückhalt.

Hamiyet Ceylan kam 1970 als Neunjährige mit ihrer Mutter nach West-Berlin, wo bereits ihr Vater als Arbeiter lebte. Nach dem frühen Tod ihres Vaters fing sie mit 18 Jahren an, bei Siemens zu arbeiten. Ende der achtziger Jahre heiratete sie und bekam drei Kinder, Anfang der neunziger Jahre ließ sie sich scheiden. Die Kinder zog sie mit ihrer Mutter groß. 1999 verlor sie nach 21 Jahren aufgrund von Stellenstreichungen ihre Arbeit bei Siemens. „Am traurigsten war ich nicht darüber, dass ich meinen Mann verloren habe, sondern meine Arbeit“, sagt sie. Vor zehn Jahren fing die 65-Jährige an, ehrenamtlich in der Seniorengruppe zu arbeiten, seitdem organisiert sie die wöchentlichen Ausflüge und das Frühstück. „Das letzte Wort habe ich“, sagt sie, „aber wenn wir zu viele sind, ist es schon problematisch, weil viele schwerhörig sind.“

Die meisten Frauen, die sich bei Dostluk treffen, sind alleinstehend. Doch einsam sind sie nicht. „Wenn Männer allein sind, passen sie nirgends mehr hin“, sagt Hamiyet Ceylan. „Ihr Leben kommt mir sehr begrenzt vor.“ Die Frauen hingegen kommen zurecht. Einige haben sich wie Gül Selcan und Sakine Aslan vor Jahren von ihrem Mann getrennt und waren danach auf sich allein gestellt. Andere wie Veciha Koçak sagten sich nach dem Tod ihres Mannes: „Ich bin nicht gestorben, mein Leben geht weiter. Es macht mich glücklich, mit meinen Freundinnen unterwegs zu sein und neue Dinge zu sehen.“ So entstand ein Freundinnenkreis, der Ehen, Krankheiten, Geldsorgen und Lebenskrisen überdauerte. Es gibt in der Dostluk-Gruppe Freundinnen, die sich vor 50 Jahren am Fließband gegenübersaßen, gemeinsam geheiratet und Kinder großgezogen haben. Andere haben hier in der Rente neue Freundinnen gefunden, mit denen sie ihren Alltag vergessen.

In Stralsund angekommen, schaut die Reisegruppe zuerst kurz beim Döner Express in der Bahnhofshalle vorbei. Dort kennt man die Berlinerinnen schon, hier trinken sie immer noch einen Tee oder zwei. Später werden sie wieder hier einkehren und den ganzen Dönerimbiss mit ihrem Flachsen unterhalten – auch Siegfried, der mit seinem Bier in der Ecke sitzt und ein bisschen türkisch versteht, weil er schon siebenmal in Side im Urlaub war.

Der Wind zieht in die Knochen

Aber erst geht es Richtung Innenstadt und an den Hafen, wo der Wind bis in die Knochen zieht. Auch hier heften sich unverhohlene Blicke auf die Gruppe, die Hamiyet Ceylan routiniert aus dem Weg räumt. „Das ist hier ein ungewohnter Anblick, acht türkische Frauen, die unterwegs sind und Spaß haben, oder?“, fragt sie einen Passanten, der sich beim Starren ertappt fühlt und vehement verneint. „Es gibt immer noch Leute, die nichts mit uns zu tun haben wollen, die nicht mit uns aufgewachsen sind“, sagt Ceylan später. Seit der Wende reisen sie durch den Osten und auf ihren Ausflügen, so scheint es, erkunden nicht nur sie Deutschland. Sie machen auch alteingesessene Deutsche mit türkeistämmigen Deutschen bekannt, zu denen diese auch nach mehr als 60 Jahren Einwanderung aus der Türkei wenig Berührungspunkte haben.

„Als das Deutsch­landticket kam, haben wir uns gesagt: Wer hält uns auf? Wir fahren überallhin“

Gül Selcan

Dostluk ist eng verbunden mit dem Frauenladen, den die Arbeiterwohlfahrt 1983 in Wedding als Anlaufstelle für Frauen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien eröffnet hat. Die Frauen sind dort gemeinsam alt geworden, manche sind krank geworden, andere gestorben. In diesem Raum ist eine starke Gemeinschaft entstanden, die über Verluste von Angehörigen und Gesundheit hinausträgt. „Solche Räume sind wichtig, die Frauen verlieren ihre Ängste“, sagt Ayten Civan.

„Mit dem Älterwerden kommen Ängste“, sagt Gül Selcan. „Angst vor Krankheiten, Angst vor dem Tod.“ Sakine Aslan hat Angst vor dem Alleinsein. „Manchmal geht es mir nicht gut und ich bleibe zu Hause“, sagt sie. „Aber dann sehe ich, dass Mittwoch ist und gehe zu Dostluk, das gibt mir Kraft.“ Für sie und ihre Freundinnen ist Mittwoch ein Tag, der sie wieder aufrichtet. „In unserem Alter versuchen wir, schöne Tage zu erleben“, sagt die 77-jährige Semiha Yalçıner. „Es gibt uns Kraft bei unseren ganzen gesundheitlichen Problemen und hilft mehr als ein Arztbesuch.“ Die Frauen haben sich einen Raum geschaffen, in dem sie gemeinsam wachsen.

Hamiyet Ceylan hofft, dass sie noch einmal nach Kuba oder nach Kirgistan reisen kann. „Als ich gearbeitet habe, hatte ich Geld, aber keine Zeit; jetzt in der Rente habe ich Zeit, aber kein Geld,“ sagt sie. Gül Selcan will noch einmal Nassau wiedersehen, wo sie vor mehr als 50 Jahren in der Fabrik gearbeitet hat. „Solange wir nicht sterben, reisen wir weiter“, sagt Sakine Aslan leichthin, und einen Moment schwebt dieser Satz noch in der Luft.

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