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die wahrheitDer Tag, an dem die Welt kopfstand

Weltrekordversuch in Berlin: Beim Yoga-Festival sollte es zu einem Massenkopfstand kommen

Yogis im Zustand entspannter Entspannung Bild: dpa

Es war so weit. Ich nahm die Kindspose im Fersensitz ein, legte die Unterarme übereinander, setzte sie vor mir auf den Boden, sodass die Ellenbogen in Schulterbreite fest auflagen, dann formte ich einen Winkel aus ihnen und verschränkte die Hände. Ich setzte meinen kahlen Scheitel auf den Boden, sodass der Handkorb meinen Hinterkopf enthielt, und winkelte vorsichtig die Beine an. Ich spürte den Druck der Erde. Da endlich trug ich die Welt, geformt wie eine Orange, auf meinem Kopf. So wurde sie erträglich.

1.000 Gesäße standen über den 1.000 Köpfen der Yogis. Und das mitten in Berlin, zwischen Kanzlerpark und Hauptbahnhof. Doch das war nur das, was der unerleuchtete, profan außenstehende Beobachter zu sehen vermochte. Ich dagegen sah, wie wir die Welt aus den Angeln hoben und sie absenkten. Wahlweise mit dem Bundeskanzleramt oder dem Hauptbahnhof als Kissen darunter. Verschwommen nur noch drangen die Stimmen der Umstehenden in mein Ohr. Das Blut strömte in meinen Kopf, die Beine standen fest im Himmel. Die Energie aus der großen Mutter Erde strömte direkt in mich. Wie gut, dass ich beim Frisör gewesen war.

"Langsam wird es wirklich spannend!", hörte ich die Stimme eines Radioreporters. "Wird der am 19. August 1995 beim 73. Friedrich-Ludwig-Jahn-Turnfest in Freyburg/Unstrut aufgestellte und bislang gehaltene Weltrekord im Massenkopfstand gebrochen werden, wo 856 Turner im Alter von 10 bis 88 Jahren gemeinsam über 30 Sekunden lang auf dem Kopf standen?" Törichte Frage, denke ich, du Tor, Tor, der du bist, Unerleuchteter! Es gibt keinen Kampf zwischen Turnern und Yogis. Die Yogis sind friedlich. Sie wollen den Krieg selbst bekämpfen, sagt der Meister.

Doch, ach, o - da kippte ich nach vorne um Alle Yogis in meiner Reihe, und das waren immerhin 333, taten es mir gleich, und so fielen wir wie die Kegel. "27 Sekunden - das wird leider nicht reichen!", sagte der Reporter. Ich sah den Zorn des Meisters auf mich zukommen und wünschte mich für 27 Sekunden in den deutschen Turnunterricht mit kurzen Turnhosen und Unterhemdchen zurück.

Beim Probekopfstand am Tag zuvor war ich sofort umgefallen. Mein Geist war noch nicht rein. Guru-Shushrusha, mein Meister, sagte: "Schneid dir die Haare oder lass es jemanden für dich tun, denn dein Haar ist wie eine Isolatorkapsel aus Horn. Wie willst du mit dieser Mähne Kontakt zum mütterlichsten der Elemente - der Erde - herstellen? Rasiere dir auch den Dreitagebart fort, sonst siehst du aus, als kämst du aus Prenzlauer Berg."

Ich hatte mich gut vorbereitet, hatte Monate verbracht, ohne in den Spiegel zu sehen, woraufhin man in der normalen Welt schreiend vor mir davonlief. Wochen hatte ich keine anderen Zeitschriften und Zeitungen gelesen als das Yoga-Magazin, bis man mir in der grobstofflichen Welt zu Therapien riet gegen einen angeblichen inneren Mangel in meinem Kopf. So sprach ich tagelang nicht mehr mit meinen Nächsten, ja entsagte der Verlockung, sie überhaupt wahrzunehmen oder an sie zu denken - da fühlte ich mich dann endlich ganz losgelöst, aß nur Obst und Yoghurt und übte mich in den Körperübungen oder Asanas und atmete ein, atmete aus

Nun jedoch lief ich kurz Gefahr, den Siddhi oder übernatürlichen Wahrnehmungsfähigkeiten zu verfallen, die mich wie Versuchungen vom rechten Pfad abzubringen drohten, denn ich konnte nicht umhin, den ungezählten weiblichen Yogis nachzuschauen, deren Formen nach denen des Obstes gebildet waren. Ich verschloss zur Selbstbestrafung die Sinne ganz und meditierte, dabei innerlich Romane verfassend, in denen ich den achtfachen Pfad Patanjalis sechzehnfach hin und her schritt, und dann zur Sicherheit noch einhundertsechzig Mal, um meinen Geist vollends und ganz zur Ruhe zu legen, bis mich mein Meister aufrüttelte: Das Yoga-Festival war seit einem Tag im Gange, ohne dass ich es bemerkt hatte.

Jetzt hörte ich schon wieder seine Stimme, wie sie über Lautsprecher zu mir und den 999 Mit-Yogis auf der Wiese sprach: "Friede sei in uns allen. Nehmt Kontakt auf mit den Elementen der Natur - der Erde, der Luft, dem Wasser " Im Hintergrund warf der Wind einen Stand des indischen Marktes um. Der Regen platschte neben unseren Ohrmuscheln auf den Rasen. "Die Gedanken fließen vorbei wie die Spree, wie die Regenwolken am Himmel. Bei jedem Einatmen hebt sich der Bauch, bei jedem Ausatmen senkt sich der Bauch taucht ein in den Frieden spürt die Entspannung entspannt die inneren Organe ganz entspannt meine Gedanken sind vollkommen entspannt, meine Entspannung ist gänzlich entspannt entspannt auch die entspannte Entspannung ... ommmmmmm ... und jetzt bringt das Bewusstsein wieder zurück in den Körper!" Doch wir waren längst nicht mehr von dieser Welt.

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