die ortsbegehung: Das Schiff im Schiff mit Kreuz im Blick
Von der Ruine zum dreifaltig genutzten Multifunktionsraum: Im brandenburgischen Müncheberg hat man erkannt, dass eine Kirche vielen Zwecken dienen kann

Aus Müncheberg Andreas Hergeth
Vor blauem Himmel umfliegen Turmfalken den Turm der Stadtpfarrkirche St. Marien, die auf einer kleinen Anhöhe steht. Ist das schön hier. Und geschichtsträchtig: Anfang des 13. Jahrhunderts errichteten Mönche des schlesischen Zisterzienserklosters in Lebus (das rund 30 Kilometer von Müncheberg entfernt liegt) eine Feldsteinkirche als erstes festes Gebäude der Stadt auf der höchsten Erhebung der Gegend. Um 1233 taucht der Ortsname „Monichsberch“ nach den „Mönchen auf dem Berg“ auf.
In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges, im April 1945, wurde die gotische Backsteinkirche durch Artillerietreffer der Roten Armee stark zerstört und brannte bis auf die Grundmauern nieder. Der Turm aber blieb, wie durch ein Wunder, stehen. Wie die Ruine ohne Dach und mit aus dem Innern wachsenden Bäume aussah, lässt sich auf alten Fotos sehen, die in der Kirche ausgestellt sind.
Pläne zum Wiederaufbau des Kirchenschiffes zu DDR-Zeiten scheiterten. Das Ganze blieb Ruine bis nach der Wende. Doch seit bald 30 Jahren steht die Kirche rundum erneuert da.
Auferstanden aus Ruinen
Ups, da liegt ein Zettel vor der Eingangstür, mit einem Stein beschwert, damit er nicht wegflattert. „Die Bibliothek ist bis auf Weiteres wegen Krankheit geschlossen.“ Doch die taz ist verabredet. Also hinein.
Wow, diese Kirche ist echt anders. Sie lässt staunen. Der Blick fällt beim Hineingehen auf Holzlamellen, dahinter Glas und Stahl und Regale mit Büchern über Büchern. Es handelt sich um die Stadtbibliothek von Müncheberg.
Durch Zufall ist gerade Karin Bertheau da, seit 8 Jahren Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Müncheberger Land. „Ein Schiff im Schiff“ nennt sie die Bibliothek. Die ist erkennbar eine Art Implantat im Kirchenschiff, etwas Eigenständiges, das zu schweben scheint. Denn da wurde dicht an die Wand und ohne die alte Bausubstanz für eine Verankerung zu benutzen ein Gebäude in Form eines Schiffskörpers ins riesige Kirchenschiff hineingebaut. Das ist irritierend schön.
Überall sind neue und alte Bausubstanz, moderne Einbauten, alte Versatzstücke wie das restaurierte Renaissance-Epitaph zu sehen. Hier wurde nichts kaschiert. „Die Spuren der Zeit sind sichtbar“, sagt Pfarrerin Bertheau.
Das Besondere hier ist, dass es eine Art Dreifaltigkeit in der Nutzung der Kirche gibt. Da ist also die Stadtbibliothek und damit die Stadt vertreten. Da ist der Altar im Chorraum und damit die Kirchgemeinde. Und es gibt den Förderverein zum Wiederaufbau, zur Nutzung und Pflege der Kirche. Letzterer ermöglicht etwa die Kirchenbesichtigungen und Turmbesteigungen. Für die gemeinsame Nutzung der Kirche wurde eine Betreibergesellschaft gegründet. Dirk Maier ist deren Geschäftsführer, er führt die taz durch die Kirche und hat viel zu erzählen.
Die Initiative zum Wiederaufbau ging auf einen Bundeswehroffizier zurück. Eine Bürgerinitiative gründete sich. Und weil in Müncheberg wie überall in ostdeutschen Landen eine schrumpfende Kirchengemeinde keine so große Kirche mehr braucht, wurde die Idee für eine multifunktionale Nutzung geboren. Es gab ein Wettbewerbsverfahren mit Partizipation der Zivilgesellschaft.
Die Entscheidung fiel auf den Entwurf des Berliner Architekten Klaus Block und sein „Haus im Haus“ wurde umgesetzt. 1993 war Grundsteinlegung für den Wiederaufbau. Es gab Diskussionen, auch kontroverse, ob das gut aussieht mit der eingebauten Stadtbibliothek, sozusagen als Dauergast, im Kircheninneren? Am 30. März 1997 wird die Kirche wieder eingeweiht, die Stadtbibliothek zieht in den modernen Einbau.
Historischer Glücksfall
Die Besonderheit
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand von der Stadtpfarrkirche in Müncheberg im Landkreis Märkisch-Oderland (Brandenburg) nur noch eine Ruine. Der Turm aber, von Karl Friedrich Schinkel entworfen, blieb jedoch verschont. Erst nach der Wende wurde die Kirche wieder zu einem multifunktionalen Begegnungsort aufgebaut.
Das Zielpublikum
Gläubige, Lesende sowie Kunst- und Kulturfans, Einheimische wie Gäste aus der Region und weit darüber hinaus.
Hindernisse auf dem Weg
Nur für Auswärtige: Der Bahnhof liegt 4 Kilometer außerhalb von Müncheberg, doch die Zugverbindung von und nach Berlin ist gut, regelmäßig fährt ein Bus zwischen Bahnhof und Stadt, nur spätabends nicht mehr.
Man könnte sagen, dass es ein historischer Glücksfall war, so im Nachhinein, dass die Kirche lange Zeit eine Ruine war. Denn ein vergleichbares Nutzungskonzept sucht seinesgleichen. „Ja, ein Glücksfall“, sagt auch Dirk Maier, „dass man sich entschieden hat, die Kirche nicht mehr als reine Kirche wiederaufzubauen.“
Seit 1997 gibt es einen durchgehenden Kulturbetrieb, das meiste organisiert Maier. Es gibt Ausstellungen, Kinoabende, am 8. Mai findet zum 80. Jahrestag des Kriegsendes ein Gesprächsabend statt. Und zu Konzerten reisen Gäste aus nah und fern an, auch aus der Hauptstadt. Platz ist für über 200 Menschen. „Das Konzept“, sagt Pfarrerin Bertheau, „funktioniert.“
Hier entstand ein variabler Freiraum für eine flexible Nutzung, für kleine wie große Formate. „Ein lebendiger Ort, wo sich alle Teile der Stadtgesellschaft treffen können“, sagt Maier. Das gilt auch für das Innere der vier Etagen der Stadtbibliothek, die durch die „Ausbauchung“ nach oben hin breiter werden. „Das ist keine Kirche, die Kultur macht“, sagt Maier, „das ist ein offenes Haus, ein Ort der Begegnung und der Kultur – immer in Absprache mit der Kirchgemeinde.“ Denn Altar und Kreuz sind immer da, bei jeder Veranstaltung sind sie zu sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen