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die ortsbegehungStreuobst und Atomsprengköpfe

Südlich von Bremen liegt der „Hohe Berg“, der eigentlich eher ein seichter Hügel ist. Bevor hier Wanderer in die Weite guckten, zielten US-Raketen von dort aus auf die DDR

Wirkt irgendwie gar nicht so richtig bergig, der Hohe Berg Illustration: Jeong Hwa Min

Aus Ristedt Jan-Paul Koopmann

Misstrauisch muss man werden,wenn Niedersachsen ihre Berge anpreisen. Zumindest, wenn’s einen nicht gerade in den sonderbaren Südzipfel verschlagen hat, wo der Harz anfängt und das Weserbergland aufhört. Da gibt es wirklich Berge. Aber hier ist vom Norden die Rede, wo das Land flach ist und der tiefste Geländepunkt zweieinhalb Meter unter dem Meeresspiegel liegt. In dieser Gegend, die auf topografischen Deutschlandkarten leicht als breiter Grünstreifen vor der Nordsee zu finden ist, liegt nun also der Hohe Berg. Der heißt tatsächlich so und „erhebt“ sich etwa 15 Kilometer südlich von Bremen aus dem Acker – zwischen Ristedt und Leerßen, auch wenn Ihnen das bei der Orientierung kaum helfen dürfte.

Dass man den Hügel heute einigermaßen leicht erkennt, liegt weniger an seinen 58,2 Metern über Normalnull, sondern an dem aufgeschütteten länglichen Wall obendrauf und dem markanten Aussichtsturm, der vor ziemlich genau 15 Jahren hier aufgestellt wurde. Seitdem gilt der Hohe Berg als beliebtes Ausflugsziel für Wanderungen, Fahrradtouren und Kindergeburtstage. Weil es einen schönen Spielplatz gibt und man vom Turm aus bei gutem Wetter unglaubliche 30 Kilometer weit gucken kann.

Noch vor wenigen Jahren hatte man gute Chancen, hier oben auf Harald Witt zu treffen, der als Entdecker dieser Anhöhe gilt und diese Geschichte gern erzählte. Denn nochmal: So einen kleinen „Berg“ muss man als solchen erst mal erkennen, wenn man durch die Endmoränenlandschaft am Geestrand streift. Genau das hat der passionierte Wandersmann Witt getan und hier eine außerordentlich gute Aussicht bemerkt. Damit ist er dann zum Bürgermeister, der Rest ist Legende. Neben dem Turm gibt es heute einen Naturentwicklungsbereich mit Wildkräutern und Streuobstwiesen sowie Platz für allerlei Tiere von Kammmolch bis Fledermaus.

Deutlich weniger Aufmerksamkeit widmen Touristinfos und Wanderführer hingegen den verfallenen Gebäuden im Schatten des Walls. „Alte Militäranlagen“ heißt es in den meisten Texten zum Thema lapidar, „Flugabwehr-Raketenstation“schreibt die Stadt Syke auf ihrer Website: von US-Streitkräften „zur Zeit des Kalten Krieges“ eingerichtet.

Der Luftraum im Osten

Was damit gemeint ist, hätte auch Anlass für ein eindringliches Mahnmal gegeben. Die von Graffiti und wilden Sträuchern geschmückten Ruinen waren einmal der Feuerleitbereich der hiesigen Station des Nato-Luftverteidigungsgürtels in Niedersachsen. Die 58,2 Meter Berghöhe waren lange vor naturverliebten Wanderern nämlich auch dem US-Militär aufgefallen, das von hier aus den Luftraum im Osten in den Blick nahm. Für ihre Radaranlagen ließen sie den Wall auf dem Berg aufschütten.

Zurück- oder wie auch immer geschossen hätten die aus Delmenhorst pendelnden Soldaten mit Nike-Hercules-Raketen. Die waren im wenige Kilometer entfernten Abschussbereich stationiert – und das vom 10. Oktober 1975 an auch mit „Sondermunition“. Gemeint sind von rund 30 Soldaten bewachte Atomsprengköpfe eines Waffen­systems mit weniger als 200 Kilometern Reichweite.

Randnotiz: Die erste Stufe von Nike-Raketen stürzte direkt nach Start ausgebrannt wieder zu Boden, wofür man hier eine vier Kilometer durchmessende Einschlagszone berechnet hatte, die zum Teil auch Ristedter Wohngebiet umfasste. Das war aber wohl weniger militärischer Ignoranz geschuldet als vielmehr der Erkenntnis, dass es im Ernstfall auf etwas mehr Raketenschrott von oben auch nicht mehr angekommen wäre.

Kriegsgebiet in Friedenszeiten

Nix wie hin

Die Besonderheit

Ein Berg. Hier! Das ist schon etwas Besonderes. Genau wie seine entspannte Besteigbarkeit: Selbst der Gipfel ist barrierefrei. (Aber Vorsicht: Für den Wall und den Aussichtsturm oben drauf gilt das leider nicht.)

Das Zielpublikum

Menschen aus der Gegend. Bremer:innen mit Lust auf einen Panoramablick auf ihre Stadt, der so tatsächlich Seltenheitswert hat. Und Menschen, die einen plastischen Eindruck davon gewinnen wollen, was Kalter Krieg bedeutet.

Hindernisse auf dem Weg

Die Anbindung an den Öffentlichen Nahverkehr ist ausbau­fähig, respektive nicht vorhanden. Mit dem Fahrrad oder zu Fuß ist der Berg aber gut zu erreichen sofern man ihn nicht übersieht.

Was die atomare Bewaffnung angeht, ist der Hohe Berg keine Ausnahme, sondern nur ein Puzzleteil des „Verteidigungsgürtels“ gegen die Sowjetunion. Die standardisierten Gebäude der Anlage kann man parallel zur DDR-Grenze genau so auch in anderen niedersächsischen Dörfern finden. Seit Ende des Kalten Krieges dienen sie als Paintball-Hallen, landwirtschaftliche Lagerflächen, Deponien – oder eben als naturverbundenes Ausflugsziel wie der Hohe Berg.

Vor Ort dokumentiert sind die Geschichten fast nie. Man kann sie in den Archiven friedensbewegter Postillen aus den 1970er und 80er Jahren nachlesen – oder mit beachtlichem Detailgrad auf der Website www.relikte.com. Über Ristedt ist dort zu lesen, dass noch 1987 eine Inspektion der Nuklearwaffen stattfand, bevor die letzten zehn Sprengköpfe im Folgejahr abgezogen wurden.

Am Hohen Berg ist es wirklich schön und der Hügel wird seichten Spott über seine doch überschaubare Höhe gut aushalten. Als Freizeit- und Naturort ist das Areal sehr vorzeigbar und die Aussicht tatsächlich toll. Nur wäre es vielleicht noch etwas aufschlussreicher, statt nur in die Ferne auch mal nach unten zu gucken, an den Fuß des Hügels, wo ein paar bunt angemalte Ruinen ruhig etwas ausdrücklicher erinnern könnten an diese irrsinnige Beinahe-Kriegszeit, die noch gar nicht so lange her ist.

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