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die dritte meinungUğur Şahins Erfolg zum Trotz – Arbeiterkinder werden stark benachteiligt, sagt Said Rezek

Said Rezek ist Politikwissenschaftler, Referent, Blogger und Journalist und berichtet vor allem über Medien, Muslime, Migration und Rassismus. 2020 ist sein Buch „Bloggen gegen Rassismus – Holen wir uns das Netz zurück!“ erschienen.

Özlem Türeci und Uğur Şahin werden für den Impfstoff gegen das Coronavirus gefeiert, darunter aktuell mit dem Paul-Ehrlich-Preis. Der Erfolg ist umso beeindruckender, weil Uğur Şahin aus einer Gastarbeiterfamilie kommt. Nun könnte man meinen, dass in Deutschland alles möglich und jeder Mensch seines Glückes Schmied ist: Willkommen im Zeitalter des deutschen Traums – oder etwa doch nicht? Schön wär’s, denn der Bildungserfolg in Deutschland ist sehr eng mit der sozialen Herkunft verbunden.

Die Chancenungleichheit hierzulande wäre fast auch Uğur Şahin zum Verhängnis geworden. Seine damalige Klassenlehrerin wollte ihn nach der Grundschulzeit auf eine Hauptschule schicken. Nur durch das Einschreiten eines deutschen Nachbarn schaffte er den Sprung auf ein Gymnasium. An dieser Stelle scheitern bereits die Träume vieler Schü­le­r:in­nen aus Arbeiterfamilien, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

Dazu sagt der Bildungsforscher Klaus Klemm: „Wir wissen, dass Kinder am Ende der vierten Klasse bei gleichen Leistungen unterschiedliche Empfehlungen in Richtung Gymnasium oder Hauptschule erhalten, je nachdem aus welchem Milieu sie kommen. So bekommen Kinder aus ‚sozial schwachen‘ Schichten seltener eine Empfehlung für das Gymnasium. Da verstärkt Schule die in den Familien generierte Ungleichheit noch mal ganz massiv.“

Bei aller Euphorie über den Erfolg von Türeci und Şahin sollten wir keine Loblieder auf den deutschen Aufstiegstraum anstimmen. Sonst laufen wir Gefahr, dass wir allen Menschen, die kein Abitur schaffen oder kein Studium absolvieren, die Verantwortung hierfür selbst in die Schuhe schieben. Fakt ist, dass Menschen aus Arbeiterfamilien bereits mit deutlich schlechteren Startchancen zur Welt kommen als Akademikerkinder. Wir haben es also mit einem strukturellen Problem zu tun, an dem die beeindruckenden Erfolge der Biontech-Gründer:innen nichts ändern. Leider! Es ist die Aufgabe der nächsten Bundesregierung, diese Ungleichheit zu reduzieren.

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