Internationaler Strafgerichtshof: Verheerendes Signal
Wer für Putin Strafverfolgung fordert, Benjamin Netanjahu aber ausnimmt, betreibt keine Rechtspflege – sondern moralischen Aktionismus.
E in autoritärer Staatschef lädt einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher ein – und nutzt den Besuch, um den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu verlassen. Was wie ein dystopisches Szenario klingt, hat sich zuletzt in der Europäischen Union abgespielt. Viktor Orbán, Ministerpräsident Ungarns, empfing den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu in Budapest – und nutzte diesen Moment, um den Austritt Ungarns aus dem IStGH zu verkünden, als erster Staat in der EU. Ein offener Affront gegen die internationale Strafjustiz, eine Kampfansage an das Völkerrecht.
Denn gegen Netanjahu liegt ein Haftbefehl des IStGH vor – wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Schulterschluss zwischen Orbán und Netanjahu steht für eine neue Allianz der Autoritären: Eine Allianz gegen die internationale Rechenschaftspflicht. Die in der internationalen Strafjustiz verankerte Übertragung von Justizgewalt auf überstaatliche Gerichte – einschließlich der Nicht-Immunität von Amtsträgern – ist ein Kernelement der internationalen Strafrechtsordnung. Fällt dieses Prinzip, fällt auch die Idee globaler Rechenschaft.
ist Völkerrechtler und Co-Director des Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung bei der NGO European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin.
Dass nun erstmals ein EU-Mitgliedstaat das Weltstrafgericht verlässt, ist ein Bruch, der europäische Grundprinzipien infrage stellt. Es steht mehr auf dem Spiel als nur die Reputation eines Gerichts. Was hier erodiert, ist eine dem Frieden verpflichtete Ordnung. Wer – wie Orbán – mit dieser Friedensordnung bricht, stellt sich außerhalb der Wertegemeinschaft, der er angehört.
Orbáns Austritt reiht sich ein in einen umfassenderen Angriff auf die internationale Strafjustiz: Donald Trump hat den IStGH sanktioniert; Jair Bolsonaro ignoriert ihn; Netanjahu droht ihm. Nun wird auch in Europa offen gegen ihn gehetzt. Nicht, weil der Gerichtshof versagt hätte – sondern weil er wirkt. Weil er beginnt, die Mächtigen in die Verantwortung zu nehmen. Und weil er beginnt, auch die zu verfolgen, die sich bisher sicher wähnten. Der Angriff auf den IStGH zielt deshalb nicht nur auf die Ermittlungen gegen Netanjahu. Er zielt auf die Idee der individuellen Verantwortlichkeit an sich.

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Die Reaktion Europas? Zu zurückhaltend. Zu zweideutig. Dabei wäre es dringend notwendig, dass die EU eine selbstbewusste Gegenposition entwickelt. Denn auch wenn der Austritt Ungarns aus dem IStGH völkerrechtlich möglich ist, dürfte er gegen EU-Recht verstoßen. Die EU hat sich in ihren Gründungsverträgen und in der Grundrechtecharta ausdrücklich zur internationalen Strafgerichtsbarkeit bekannt.
Artikel 2 des EU-Vertrags verpflichtet alle Mitgliedstaaten zur Achtung der Menschenwürde, der Rechtsstaatlichkeit und internationalen Verpflichtungen. EU-Richtlinien und Beitrittsberichte der Europäischen Kommission verlangen eine „volle Kooperation mit dem IStGH“. Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ist daher nicht nur möglich, sondern überfällig.
Noch wichtiger aber ist die politische Botschaft: Europa muss sich entscheiden, ob es mehr sein will als ein Binnenmarkt. Denn wer sich vom Gerichtshof distanziert, distanziert sich auch von der Idee eines Europas, das auf Rechtsstaatlichkeit und Verantwortung beruht. Die EU muss zeigen, dass sie bereit ist, ihre Prinzipien zu verteidigen – auch und gerade, wenn sie unbequem werden. Denn wer selektiv mit dem Völkerrecht umgeht, beschädigt es als Ganzes.
Die Folgen wären absehbar. Wenn Europa diesen Rückschritt toleriert, sendet es ein verheerendes Signal: Dass Verantwortung verhandelbar ist. Dass Prinzipien geopfert werden können, wenn es politisch opportun erscheint. Dass es einen Unterschied macht, ob ein Verdächtiger Netanjahu oder Putin heißt. Wer für Putin Strafverfolgung fordert, Netanjahu aber ausnimmt, betreibt keine Rechtspflege – sondern moralischen Aktionismus mit doppeltem Boden.
Merz will Netanjahu einladen
Dabei gäbe es gerade jetzt eine historische Chance. Der IStGH zeigt, dass er nicht mit zweierlei Maß misst und keine Doppelstandards anlegt. Er ermittelt – egal, ob der Verdächtige im Sudan, in Russland oder in Israel sitzt. Der ursprünglich afrikanische Fokus des Gerichts weicht endlich einer Ausdehnung seines Aktionsradius. Das ist ein Beweis für Integrität, für Unabhängigkeit, für den universellen Geltungsanspruch des Rechts.
Und genau in diesem Moment fällt Deutschland dem Gericht in den Rücken. Statt die internationale Strafjustiz zu verteidigen, kündigt CDU-Chef Friedrich Merz „Wege und Mittel“ an, Netanjahu im Falle eines Deutschlandbesuchs vor einer Verhaftung zu schützen. Das sind Worte, wie man sie von autoritären Regimen kennt, aber nicht von Demokratien.
Nur eine Ausnahme, weil die deutsche Staatsräson auf dem Spiel steht? Das wäre zumindest bigott. Denn die deutsche Staatsräson – die Verantwortung für die Sicherheit Israels – steht nicht im Widerspruch zum Völkerrecht. Im Gegenteil: Wer diese Staatsräson ernst nimmt, darf sie nicht als Schutzschild gegen menschenrechtliche Standards missbrauchen. Es geht nicht um Staatsräson oder Völkerrecht, sondern um eine völkerrechtskonforme Anwendung der Staatsräson. Dies ist nur ein Widerspruch für den, der das partikulare „Nie wieder“ dem universellen vorzieht. Die Würde des Menschen ist unteilbar – sie gilt für Israelis wie für Palästinenser. Sie darf nicht geopfert werden, wenn es politisch opportun erscheint.
Deutschlands internationale Glaubwürdigkeit bemisst sich nicht nur an Worten. Sie bemisst sich auch daran, wie wir zum Völkerrecht stehen. Als Mittelmacht ist das unsere härteste Währung. Und in Zeiten, in denen die internationale Ordnung nicht nur an ihren Rändern zersetzt wird, braucht es eine selbstbewusste Verteidigungslinie. Eine, die zeigt: Europa steht für Recht, nicht für Macht. Für universelle Geltung, nicht für doppelte Standards. In Zeiten, in denen Autoritarismus auf dem Vormarsch ist, müssen Demokratien Haltung zeigen.
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