debatte: Unmöglicher Spagat
Die Ampel fetischisiert Wachstum, statt Auswege zu schaffen. Die werden, wenn nicht by design, dann eben by desaster kommen
Das vom Kanzler verkündete Fazit der Kabinettsklausur lautet „Impulse für Wachstum in Deutschland“. Wer darüber erstaunt ist, sollte eines nicht übersehen: Zwar ist der seit 50 Jahren vorhergesagte ökologische Abgrund längst erreicht, aber modernisierungs- und systembedingte Wachstumstreiber haben sich deshalb nicht in Luft aufgelöst, teilweise sogar verstärkt.
Als Goethe einst meinte, „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen“, seien „Phantasten oder Scharlatane“, nahm er das prägende Dilemma späterer Demokratien vorweg. Alle Versuche, diese Unvereinbarkeit zu überwinden, laufen stets auf dieselbe Erlösungsfantasie hinaus: Wachstum! Denn nur eine permanent expandierende Verteilungsmasse lässt auf einen nachholenden Ausgleich zugunsten derjenigen hoffen, die ihre Freiheit weniger wirksam zum eigenen Wohlergehen nutzen konnten als Bessergestellte, ohne Letzteren Einschränkungen, also Freiheitsentzug, oktroyieren zu müssen. Den einen geben zu können, ohne den anderen etwas nehmen zu müssen, bildet den sozialpolitischen Trick des Liberalismus.
Überdies fällt es demokratischen Regierungen angesichts einer „flüchtigen Moderne“ (Zygmunt Bauman) immer schwerer, ausufernde Interessenlagen und Entfaltungsansprüche unter einen Hut zu bringen. Die zu repräsentierenden Identitäten erweisen sich überdies als zusehends instabil. Um den Flickenteppich an kulturellen Ungleichzeitigkeiten dennoch legitim vertreten zu können, bedarf es einer additiven Sozialtechnik, genauer: einer Armada der Gießkannen, am besten eine eigene für jedes Partikularinteresse. Damit können beliebig diverse Begehrlichkeiten nebeneinander bedient werden, statt sie gegeneinander abzuwägen, was irgendwem Freiheit entziehen würde. Folglich treibt die Modernisierungsdynamik politische Parteien in einen Überbietungswettbewerb des Geschenkeverteilens.
Gemäß dieser Maxime werden schädlichste Handlungsmuster selbst dann nicht unterbunden, wenn sie purem Luxus dienen, sondern umhüllt von ergänzenden Ausgleichsmaßnahmen, um sie als Errungenschaft moderner Freiheit bestehen zu lassen. Ein Beispiel: Kürzlich vermeldeten die Nachrichtenkanäle direkt aufeinanderfolgend zwei Ereignisse, deren Unvereinbarkeit verrückter kaum sein könnte, nämlich erstens, dass das umkämpfte Gebäudeenergiegesetz vom Parlament beschlossen worden sei, und zweitens, dass (am selben Tag!) in Hamburg das Kreuzfahrt-Mega-Event stattfinden würde. Oder: Während Deutschlands Flugbranche auf neue Rekorde zusteuert, wird parallel dazu das Deutschlandticket gefeiert, weil es die ÖPNV-Nachfrage wachsen lässt, was wiederum angesichts des Ausbaus ruinösester Autobahn- und Straßenprojekte kaum den Pkw-Verkehr dezimieren dürfte.
Ob der oft ausgerufene Siegeszug der Demokratie tatsächlich nur ein solcher des Wirtschaftswachstums war, wird sich zeigen. Denn nicht nur die Ökosphäre setzt der befriedenden Füllhornlogik Grenzen, sondern auch Ressourcenengpässe, die vom Erdgas über Flächen, seltene Erden, Mikrochips, Holz und andere strategische Vorprodukte bis zu Fachkräften reichen. Ganz zu schweigen von individuellen und gesellschaftlichen Überforderungssyndromen: Ab welchem Überfluss mutiert materielle Freiheit zu Reizüberflutung? Die Aufnahmefähigkeit menschlicher Sinnesorgane und psychischer Kapazitäten für all das, was konsumiert werden muss, damit die Wirtschaft wächst, ist begrenzt.
NicoPaech
61, ist Professor für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen. Er hat den Begriff der „Postwachstumsökonomie“ geprägt. Sein Buch „All you need is less“ (mit Manfred Folkers) ist 2020 erschienen.
Aber insoweit sich demokratische Regierungen vom Spagat zwischen ungehinderter Freiheit und ökonomischem Egalitarismus kaum zu lösen vermögen, ohne gegen das moderne Normengerüst zu verstoßen, müssen sie um ihres Machterhalts willen die simultane Überwindung dieser Wachstumsgrenzen wenigstens vortäuschen. Und hier glänzt die Berliner Regierung.
Erstens unterbindet sie kein zerstörerisches Wachstum, nutzt dessen Folgen sogar, um die Notwendigkeit eines zusätzlichen „grünen“ Wachstums herzuleiten. Letzteres entspräche zwar einer Quadratur des Kreises, verzeichnet als Nachhaltigkeitssimulation jedoch beachtliche Glaubwürdigkeitserfolge – natürlich nur vorübergehend. Aber wenn der Schwindel auffliegt, haben die verantwortlichen Entscheidungsträger längst ausgesorgt oder erfreuen sich lukrativer Vorstands- und Aufsichtsratsposten in großen Organisationen.
Zweitens wird der ideologische Streit über die effektivste Wachstumsstrategie elegant überwunden. Vormals standen sich ein keynesianisch-sozialdemokratisch geprägtes und ein neoliberal-angebotsorientiertes Lager gegenüber. Ersteres favorisiert expansive Ausgaben- und Investitionsprogramme, um die Nachfrage zu stimulieren, Letzteres zielt darauf, die Unternehmensseite durch Steuer- und Kostensenkungen zu entlasten. Die aktuelle Dreierkoalition ist hier ein Glücksfall. Denn je mehr unterschiedliche Interessen abzudecken sind, damit die jeweilige Klientel gewogen bleibt, desto leichter lassen sich beide Strategien kombinieren, um aus noch mehr Rohren auf das einende Ziel zu schießen.
Drittens wird jegliche Form von Konsum- und Technologieabhängigkeit gefördert, wobei sich der Digitalisierungs- und Akademisierungswahn als perfektes Instrumentarium erweist. Eine Entfremdung von handwerklicher Praxis und die bildungspolitisch forcierte Verkümmerung aller Fähigkeiten, Bedürfnisse genügsam, sesshaft und unter Aufbietung eigener oder regionalökonomischer Leistungen zu behandeln, beflügeln das Wachstum.
Sollte also die aktuelle Rezession nicht bald überwunden werden, liegt dies mitnichten an einer Regierung, die wachstumsfetischistischer kaum sein könnte, sondern daran, dass der Abschied vom Wachstum, wenn nicht by design, dann eben by desaster eintritt.
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