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debatteAlles wird gut

Vor den Neuwahlen zum Istanbuler Oberbürgermeister herrscht in der Türkei neuer politischer Mut. Erdoğan hat kaum noch Unterstützer

JürgenGottschlich

ist seit zwanzig JahrenTürkei-Korrespondent der taz.

Das Plakat zeigt einen lachenden Lockenkopf, einen Arm mit der Faust emporgereckt, den anderen zum Victory-Zeichen erhoben. Darüber steht in unterschiedlich farbigen Schriftzügen:„Ekrem Abi, her şey çok güzel olacak“ (Ekrem, Bruder, alles wird gut). Das Plakat ist nur ein Beispiel für eine furiose Kreativitätswelle, die derzeit durch die türkischen sozialen Medien rauscht und Erinnerungen an den Sommer 2013 weckt, als im Zuge des Gezi-Aufstands ebenfalls Einfallsreichtum, Witz und Humor zu den wichtigsten Waffen der Opposition zählten. Es wird gezeichnet, gedichtet und gesungen, Künstler, Intellektuelle und Akademiker sind mobilisiert wie seit Jahren nicht.

Sie alle haben ein Ziel: den Wahlsieg des Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu in Istanbul festzuhalten. Sie wollen bei der von Präsident Recep Tayyip Erdoğan erzwungenen Neuwahl am 23. Juni dessen AKP eine noch deutlichere Abfuhr erteilen, als sie sie am 31. März bei den türkischen Kommunalwahlen bereits erhalten hat.

Schon der Slogan der Bewegung, „Alles wird gut“ ist ein Signal, wie es die Türkei seit dem Sommer 2013 nicht mehr gesehen hat. Er ist nicht das Ergebnis irgendeines Spindoktors aus einer Werbeagentur, sondern er hat sich aus der ersten Wahlkampagne von Ekrem İmamoğlu geradezu organisch entwickelt, weil er zu dem Mann. dem Optimismus und der Authentizität, die er ausstrahlt, einfach passt. Schon jetzt, vier Wochen vor der erzwungenen Neuwahl in Istanbul, kann man feststellen: Das politische Klima in der gesamten Türkei hat sich verändert.

Die jahrelange Resignation nach der Niederschlagung des Gezi-Aufstands, den Terroranschlägen, dem Putschversuch und dem anschließenden Ausnahmezustand mit Zehntausenden Verhaftungen und schärfster Repression, diese Resignation weicht einem neuen Optimismus. Ein neuer politischer Mut ist entstanden, der die Angst der letzten Jahre vergessen lässt – es wird wieder öffentlich geredet und Erdoğan sieht dabei sehr schlecht aus.

Aus dem Mann, der jede Wahl gewinnen konnte, der versprach, dem Land einen neuen Wohlstand zu bringen, ist ein Verlierer geworden. Ein verkniffener islamistischer Autokrat, der nicht mal mehr seinen eigenen Kandidaten für das Istanbuler Amt des Oberbürgermeisters wirklich motivieren kann, sondern nur noch mit Lügen, schmutzigen Tricks und dem unlauteren Einsatz öffentlicher Gelder die Macht seines Clans zu sichern versucht. Das Einzige, was Erdoğans Anhänger derzeit noch mobilisiert, ist die Angst, den Besitz, den sie in den letzten Jahren zusammengerafft haben, wieder zu verlieren, sollte ihr Patron abtreten müssen.

Sicher, diese Angst treibt Hunderttausende um, die ihren Job, ihre Zuwendungen, ihre Privilegien der AKP verdanken, die mit beispielloser Rücksichtslosigkeit „ihre Leute“ in alle lukrativen Positionen des Staates gehievt hat, die Staatsaufträge bedingungslos an ihre Leute verteilt hat, die nun alle etwas zu verlieren haben.

Doch das ist kein Ausweis von Stärke mehr, sondern setzt die Protagonisten des Systems immer deutlicher ins Unrecht. Selbst viele AKP-Anhänger sind mittlerweile davon angewidert, nicht zu reden von den Scharen ehemaliger AKP-Leute, die Erdoğan auf dem Weg zur Alleinherrschaft alle hat über die Klinge springen lassen. Es ist kein Zufall, dass jetzt immer häufiger davon die Rede ist, dass frühere AKP-Spitzenleute, wie der geschasste Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan und selbst der frühere Präsident Abdullah Gül laut über die Gründung einer neuen Partei nachdenken. Das wäre vor ein paar Jahren noch unvorstellbar gewesen.

In dieser Situation ist Ekrem İmamoğlu ein absoluter Glücksfall für die Opposition. Der Mann macht einfach alles richtig. Er schreit und droht nicht wie Erdoğan, sondern er wirkt versöhnlich und bleibt immer optimistisch. Als die Nachricht von der Annullierung der Wahl kam, besuchte er gerade eine arme konservative Familie zum Fastenbrechen am Ende des ersten Tages des Fastenmonats Ramadan. Als die Reporter aufgeregt auf ihn einredeten, blieb er ganz ruhig und zeigte sich überzeugt, dass am Ende „doch alles gut“ werden würde.

Aus dem Mann, der jede Wahl gewinnen konnte, der neuen Wohlstand versprach, ist ein Verlierer geworden

İmamoğlu veranstaltet keine Großkundgebungen, sondern besucht Schulen, Fabriken oder Wochenmärkte und redet mit den Leuten. Am letzten Montag sprach er einen jugendlichen Obstverkäufer an, warum der nicht in der Schule sei und stattdessen auf dem Markt arbeite. Verlegen antwortete der Junge, seine Familie brauche das Geld, das er verdiene. Einen Tag später besuchte İmamoğlu die Familie. Was leicht wie eine schmierige PR-Aktion aussehen könnte, war bei ihm ein ehrliches Interesse am Schicksal dieser armen Familie – jedenfalls kam es bei allen Istanbulern so an.

So groß der Anteil von İmamoğlu am neuen Optimismus der Opposition auch ist, das allein würde wohl nicht reichen, das System der AKP zu besiegen. Doch auch die Umfragen sind auf İmamoğlus Seite. Wahlanalysen zeigen, dass Erdoğan über die letzten drei, vier Wahlen kontinuierlich verloren hat und nur das Bündnis mit der rechtsradikalen MHP ihn noch an der Macht hält. Nicht mehr nur die säkulare Mittelschicht ist gegen ihn, er verliert auch die Unterstützung der Reichen und der ganz Armen, die unter der Wirtschaftskrise besonders zu leiden haben. Seine Visionen für die Türkei sind zu Betonruinen geworden, die die Städte verschandeln, allen voran Istanbul.

Selbst wenn Erdoğan es am 23. Juni mit allen schmutzigen Tricks, die ihm zur Verfügung stehen, noch einmal schaffen sollte, sich die Macht in Istanbul zu sichern: Die Mehrheit der Türken glaubt, dass seine Zeit vorbei ist. Deshalb ist sein Verfallsdatum so oder so in absehbarer Zeit erreicht – und „alles wird gut“.

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