das wird: „Denken ist für die Denkenden gefährlich“
Eine Doku zeigt, warum Hannah Arendts Überlegungen in Zeiten des Rechtsrucks wichtiger sind denn je
Interview Finn Sünkler
taz: Frau Meints-Stender, es gibt bereits zahlreiche Bücher und Filme über Hannah Arendt. Wozu braucht es noch einen Film über sie?
Waltraud Meints-Stender: Das liegt meiner Meinung nach auf der Hand: Die Aktualität, die Unabhängigkeit und der Mut ihres Denkens. Hannah Arendts Ausgangspunkt sind die Erfahrungen ihrer Zeit. Unsere Erfahrungen sind zwar nicht die von Arendt, aber in ihren und unseren Erfahrungen liegen grundlegende Probleme, die bis heute nicht geklärt sind und heute unter anderen Vorzeichen wiederkehren.
taz: Wie meinen Sie das?
Meints-Stender: Es gibt autoritäre Elemente in allen modernen Demokratien. Das bezieht sich auf die Missachtung sozialer Ungerechtigkeiten – nicht nur national, sondern auch global. Dazu zählen die eingeschränkten Rechte von Minderheiten, die Erosion der Rechtsstaatlichkeit und die Einflussnahme von Politikern auf Richterwahlen.
taz: Hannah Arendt sagte in ihrem letzten Interview, dass es keine gefährlichen Gedanken gebe, das Denken an sich sei gefährlich. Warum ist das Denken gefährlich?
Meints-Stender: Die zentrale Idee dieses Satzes besteht darin, dass jemand, der selbstständig denkt und an die Stelle eines anderen zu denken versucht, zwangsläufig unbequem wird. Ein solcher Mensch verhält sich widerständig, stellt gängige Meinungen infrage und argumentiert gegen den Mainstream. Denken ist in diesem Sinne für die Denkenden gefährlich, weil sie sich nicht unterwerfen, sondern sich sowohl auf andere als auch auf sich selbst beziehen. Sie treten also in eine reflexive Auseinandersetzung darüber ein, was sie denken und wie sie handeln.
Film und Gespräch mit Waltraud Meints-Stender, 9. 10., 17.30 Uhr im City 46, Birkenstraße 1, Bremen.
Weitere Vorstellungen in Göttingen, Hamburg, Hannover, Lübeck und Lüneburg
taz: Autoritäre Kräfte erstarken derzeit vielerorts, in Europa, den USA und hier in Deutschland. Demokratische Grundwerte geraten immer mehr unter Druck: Haben wir als Gesellschaft verlernt, selbstständig und kritisch zu denken?
Meints-Stender: Nein. Ich denke, dass Menschen durch einen gemeinsamen Austausch öffentliche Räume schaffen können, also Orte, an denen Meinungen sichtbar und hörbar werden. Die sogenannten sozialen Medien erschweren diesen Austausch jedoch.
taz: Inwiefern?
Meints-Stender:Öffentliche Rede, also ein Austausch über beispielsweise Migration oder soziale Fragen, sollen ja Wirklichkeiten enthüllen. Das ist in den sozialen Medien nicht mehr gegeben. Sie sind rechtlich nicht gebunden und wirken häufig ausschließend. Es findet also kein richtiger Austausch mehr statt. Stattdessen verbreiten sich Lügen, die Interesse vortäuschen, ohne dass ein echtes Gespräch stattfindet. Dennoch: Nein, ich glaube nicht, dass man das selbstständige Denken verlernen kann.
taz: Welches ist das zentrale Vermächtnis Hannah Arendts für unsere heutige Zeit?
Meints-Stender: Besonders hervorzuheben sind ihr Mut, ihre intellektuelle Unabhängigkeit sowie ihre Fähigkeit, schwierige Wahrheiten auszusprechen, auch wenn dies mit Kritik verbunden ist. Sie hat sich den Realitäten gestellt, wie sie sind. Arendt verstand Denken nicht als abstrakte, elitäre Tätigkeit, sondern als aktive, politische Praxis und somit als Voraussetzung für verantwortliches Handeln in der Gesellschaft. Das macht sie bis heute zu einer einzigartigen Persönlichkeit.
taz: Inwiefern gelingt es dem im September erschienenen Dokumentarfilm „Denken ist gefährlich“ von Jeff Bieber und Chana Gazit, den Menschen Hannah Arendt vollständig abzubilden?
Meints-Stender: Ich glaube, das ist unmöglich. Das ist keine Schwäche des Films, sondern man muss auch das Medium selbst in seinen Grenzen wahrnehmen. Er parallelisiert ja die politischen Ereignisse mit der Biografie Hannah Arendts und versucht dadurch zu zeigen, wie sie darauf reagiert hat. Aufgrund der Vielzahl der Ereignisse kann dies natürlich nur oberflächlich erfolgen. Der Anspruch des Films ist zwar sehr interessant, aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Ereignisse jedoch nicht einlösbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen