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Wissenschaftlerin über Abschied und Tod„Uns fehlt Raum für Gespräche über existentielle Themen“

Wenn es um das Lebensende geht, gibt es oft eine große Sprachlosigkeit, sagt Martina Wachtlin. Ihr Erzählsalon in Oldenburg will daran etwas ändern.

Ein möglicher Ort der Trauer: Gräber auf dem Friedhof Ohlsdorf Foto: dpa | Georg Wendt
Interview von Esther Erök

taz: Frau Wachtlin, warum tun wir uns so schwer damit, offen über Sterben und Trauer zu sprechen?

Martina Wachtlin: Das hat viel mit unserer kulturellen und gesellschaftlichen Prägung zu tun. In der Vergangenheit gab es klare Rituale und Traditionen, wie in Dorfgemeinschaften, wo das Sterben sichtbar und gemeinschaftlich begleitet wurde. Diese gemeinschaftlichen Formen des Abschieds sind uns unter anderem durch Urbanisierung, Individualisierung und den Einfluss kapitalistischer Strukturen verloren gegangen. Heute leben viele Menschen in loseren sozialen Gefügen. Der Fokus auf Leistung und Arbeit lässt kaum noch Raum für die Pflege sozialer Beziehungen, geschweige denn für Gespräche über existenzielle Themen wie Tod und Trauer. Es braucht sehr viel bewusste Entscheidung, um sich solchen Gesprächen zu widmen.

taz: Gibt es eine Erkenntnis, die Ihre eigene Sicht auf Abschied und Trost verändert hat?

Wachtlin: Ja, ich denke oft an meine Interviews mit Menschen, die mit einer schweren Diagnose leben. Viele von ihnen begannen ihr Leben anders zu betrachten. Es ging nicht mehr um Leistung oder Status, sondern um das Jetzt, um Beziehungen. Besonders Männer sagten mir, dass sie es bereuen, nicht mehr Zeit mit ihrer Familie verbracht zu haben. Jetzt genießen sie die Zeit mit ihren Kindern und Enkelkindern – das rückt alles in ein neues Licht. Diese Erkenntnis, wie sehr Beziehungen und Gegenwärtigkeit zählen, hat auch meine eigene Sicht auf Abschied und Trost verändert.

Bild: privat
Im Interview: Martina Wachtlin

48, ist als Gesundheitswissenschaftlerin tätig in der Biografie­forschung und Auto­ethno­grafie.

taz: Inwiefern kann das Teilen persönlicher Geschichten über Trauer und Fürsorge heilsam sein?

Wachtlin: Ich habe in meiner wissenschaftlichen Arbeit viel biografisch-narrative Interviews geführt – mit Menschen, die chronisch krank sind oder mit einer potenziell lebensbedrohlichen Diagnose leben. Dabei fiel mir auf, dass es oft eine große Sprachlosigkeit gibt, wenn es um das Lebensende geht. Hier sehe ich das Heilsame des Erzählens: Wenn Menschen beginnen, ihre Geschichten zu teilen, entsteht Raum – auch für Gefühle, für Reflexion, für Verbindung. Oft rücken durch diese Erzählungen Beziehungen wieder ins Zentrum. Es geht darum, was wirklich zählt: Nähe, Empathie, Zugehörigkeit, gemeinsame Zeit. Das kann sehr stärkend wirken – sowohl für die Erzählenden als auch für die Zuhörenden.

taz: Gehen kulturelle Gruppen unterschiedlich damit um?

Wachtlin: Ich habe aus meiner Beobachtung festgestellt, dass verschiedene kulturelle Gruppen unterschiedliche Rituale und Umgangsweisen haben, was Trauer und Pflege betrifft. Zum Beispiel habe ich mit Sinti und Roma gearbeitet oder mit Jesiden. In diesen Gemeinschaften gibt es teilweise noch sehr feste Rituale, wie man mit Tod und Pflege umgeht. Das Pflege-Thema ist oft eine typische Frauenarbeit. Gleichzeitig ist auch der Fachliteratur zu entnehmen, dass in der türkischen Community immer weniger Kinder bereit sind, ihre Eltern traditionell zu Hause zu pflegen – auch wenn sie es vielleicht möchten. Das hat mit dem kulturellen Wandel zu tun, aber es gibt auch immer mehr ambulante Pflegedienste, die speziell auf die Bedürfnisse dieser Community eingehen.

Die Veranstaltung

Erzählsalon „Abschied, Fürsorge und Trost – Geschichten vom Lebensende“: Di, 22. 4., 14.30 Uhr, Schlaues Haus Oldenburg

taz: Warum braucht es Ihrer Meinung nach geschützte Räume für Gespräche über Abschied und das Lebensende?

Wachtlin: Weil wir im Alltag kaum noch Orte haben, an denen wir offen über Sterben, Trauer und Fürsorge sprechen können. Diese Themen sind oft mit Unsicherheit, Ohnmacht oder sogar Angst verbunden. Ein geschützter Raum wie ein Erzählsalon bietet einen Rahmen, in dem Menschen einander zuhören, sich austauschen, ohne bewertet zu werden. Es geht nicht um Therapie oder Lösungsvorschläge, sondern um das Teilen – um Präsenz. Das ist in unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft unglaublich wertvoll.

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