piwik no script img

das wird„In Masuren ist der Krieg ganz nah“

Historiker Andreas Kossert erklärt Eigenarten der masurischen Grenzbevölkerung

Interview Petra Schellen

taz: Herr Kossert, ist Masuren Idyll oder geschundene Landschaft?

Andreas Kos­ser­t: E­s ist ein Sehnsuchtsort, mit dem Polen und Deutsche den ewigen Sommer und den hohen Himmel verbinden. Zugleich steht es für das östliche Mitteleuropa – als Region, die Ablagerungen dramatischer Geschichte trägt. Über Masuren und Ostpreußen sind Kriege hinweg gegangen und nach 1945 ein fast hundertprozentiger Bevölkerungsaustausch. Es ist eine historische Grenzregion, an der man exemplarisch ablesen kann, wie Nationalismus am Ende zu Krieg, Vernichtung und Vertreibungen führte.

Das heißt konkret?

Ursprünglich lebten in Masuren vorwiegend polnischsprachige Einwanderer, vom preußischen Staat als Siedler angeworben. Mit der Reformation ab 1525 in Preußen wurden auch die polnischsprachigen Untertanen evangelisch. Das führte dazu, dass sie sich von ihren katholischen polnischen Nachbarn jenseits der Grenze entfremdeten und sich stärker mit dem preußischen Staat identifizierten. Mit dem aufkommenden Nationalismus verdrängten die preußisch-deutschen Behörden im Zuge einer rigiden Germanisierungspolitik den polnischen Dialekt. Die wichtigste Zäsur stellte aber der Erste Weltkrieg dar.

Inwiefern?

Foto: Tobias Hein

Andreas Kossert

52, freier Autor, ist Historiker, Slawist und Politologe.

Ostpreußen war als einzige deutsche Region Kriegsgebiet, als russische Truppen große Teile der Provinz besetzten – was die Loyalität der Masuren mit Deutschland verstärkte. Der Erste Weltkrieg brachte den Durchbruch hin zu einer dezidiert deutschen Identität der masurischen Grenzbevölkerung.

… von der dann Hitler profitierte.

Ja. Masuren ist ein Paradebeispiel für das Scheitern der Weimarer Republik: Die vorwiegend ländliche Bevölkerung, die in einem nationalistischen Spannungsfeld lebte und unter der Wirtschaftskrise litt, hat ihr Heil im Nationalsozialismus gesucht und bei den letzten Wahlen 1932 mehrheitlich für Hitler gestimmt. Letztlich wurden sie so zu Totengräbern ihrer Kultur: Bei Kriegsende war Masuren einer der ersten Regionen Deutschlands, die von sowjetischen Truppen erobert wurde und viele zivile Opfer kostete. Hunderttausende Zivilisten flohen im Januar 1945 gen Westen. Wer blieb, wurde vertrieben oder von der kommunistischen Nachkriegsregierung polonisiert, ganz gemäß der Doktrin, dass Masuren immer polnisch gewesen und nun „zurückgewonnen“ sei. Abermals wurden die Menschen zum Spielball nationalistischer Interessen.

Wie gehen diese Menschen heute mit ihrer Geschichte um?

Lesung: „Gebrauchsanweisung für Masuren“: 8. 6.,18.30 Uhr, Gästehaus der Uni Hamburg, Rothenbaumchaussee 34

Seit Ende des Kalten Krieges entwickelt sich eine neue Identität. Anders als ihre Eltern und Großeltern fürchten die Menschen heute nicht mehr, dass die Deutschen zurückkommen – und beginnen sich für die deutsche Geschichte der Region zu interessieren. Es gibt viele regionale Initiativen, die etwa alte Dorffriedhöfe instand setzen oder die deutsch-jüdische Geschichte dokumentieren.

Sie selbst schreiben seit 20 Jahren Bücher über Masuren. Warum jetzt noch eine „Gebrauchsanweisung“?

Weil es eine spannende Freischwimm-Übung war, mal kein Sachbuch, sondern vielmehr eine Einladung zu schreiben, Menschen für Polen zu begeistern. Also einfach hinzufahren, sich für unsere Nachbarn zu interessieren. Gerade seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist es wichtig zu begreifen: In Masuren ist die russische Enklave Kaliningrad ganz nah und der Krieg – wie überhaupt in Polen – viel präsenter. In Masuren leben überall, auch in kleinen Dörfern, ukrainische Flüchtlinge. Nach Masuren zu fahren ist auch eine Begegnung mit der neuen Realität Europas im 21. Jahrhundert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen