ärzte, apotheker, gesundheitsministerien etc.: Der Wirkstoff ist entscheidend, nicht der Name
Entfremdung statt Gesundheit
Kürzlich trat im Rahmen einer der vielen Einsparungsversuche des Gesundheitsministeriums die so genannte Aut-Idem-Regel in Kraft. Hier scheint schon verdächtig, dass mit einem Mal ein lateinischer Ausdruck die sonst üblichen englischen Begriffe vertritt. Natürlich gibt es dafür gute Gründe, Latein ist die Sprache der Ärzte und signalisiert damit die Hoffnung, der Patient habe sich mit den Folgen der Reform nicht selbst auseinander zu setzen.
Was aber steckt tatsächlich hinter der Regelung, die es dem Apotheker möglich macht, ein vom Arzt verschriebenes Medikament durch eins mit demselben Wirkstoff zu ersetzen? Vordergründig ein Problem des Gesundheitswesens, entpuppt sich die Vorschrift als eine Weiterentwicklung des globalen Marktes. Schlimmer noch, es ist die fortschreitende Entmündigung des Patienten und seine Festschreibung in eine Medizin der Scharlatanerie. Ich beziehe mich dabei auf eine Äußerung Isabelle Stengers, die in ihrer „Erfindung der Wissenschaft“ schreibt: „Fortan wird der als Scharlatan definiert, der die Wirkung [einer Medizin] für einen Beweis hält.“
Nach diesem Grundsatz ist es reine Scharlatanerie, wenn die 240.000 Euro teure Anzeigenkampagne des Bundesgesundheitsministeriums mit der Aussage wirbt: „Der Wirkstoff ist entscheidend, nicht der Name.“ Abgesehen davon, dass unterschiedliche Tabletten verschiedene Trägersubstanzen besitzen, die ebenfalls auf den Körper einwirken, wird hier die Heilung vom Heilmittel aus definiert. Dies ist ein weiterer Schritt in der so genannten Placebo-Forschung, die die menschliche Eigenheit, „eine Fiktion ‚wahr‘ zu machen, für einen parasitären, störenden Effekt hält“ (Stengers).
Der Patient darf nicht mehr gesund werden, weil die Tablette eckig oder eben diese oder jene Trägersubstanz oder diesen oder jenen Namen besitzt, sondern weil ein bestimmtes Mittel wirkt. Der Patient ist demnach nicht mehr an der Heilung selbst beteiligt. Er muss an eine Essenz glauben, deren Existenz er selbst nicht fassen kann. Das Äußere, mit dem er sonst Tag für Tag umworben wird, so will ihm das Bundesgesundheitsministerium weismachen, soll im Fall der Arznei keinerlei Bedeutung besitzen. So besteht der Effekt dieser Reform darin, dem Patienten die Möglichkeiten einer Orientierung zu nehmen und damit die Mitwirkung an seiner eigenen Heilung. Das ist natürlich mehr als kurzfristig gedacht, denn wie soll durch Entfremdung Gesundheit gefördert werden?
Könnte man diese Einwände nun allein als Nebenwirkungen der Reform bezeichnen? Ich glaube nicht. Reformen sind nicht willkürliche Äußerungen eines Änderungswillens, sondern spiegeln immer eine gesellschaftliche Realität wider. Das System stellt sich, durch die scheinbare Vielfalt bedroht, noch einmal auf die Hinterbeine und versucht seine Macht in das Nichtgreifbare hinein zu verlagern, nämlich in den Menschen selbst, und zwar genau an der Stelle, an der er am empfindlichsten ist. Im Namen einer rationalen Aufgeklärtheit soll der Patient seine Sinne verschließen. Doch diese Rationalität ist nur vorgeschoben, denn gerade sie führt den Aberglauben, die Scharlatanerie wieder ein. Ungebrochen muss der Glaube des Patienten an Arzt und Apotheker und Gesundheitssystem sein. So verbindet sich der so genannte Wirkstoff mit der Behauptung, es gehe allein um „Wirkstoff“, dessen Zuteilung praktischerweise die Regierung bestimmt.
Würde das Bundesgesundheitsministerium den Menschen außer einer Werbekampagne eine Garantie für Gesundheit ausstellen, so gäbe es zumindest einen Anlass, diesen Vorschlag zu erwägen. Doch man wird sich hüten. Wird der Patient nicht gesund, dann hat der Wirkstoff versagt. Was aber, wenn sich sein Zustand durch denselben Wirkstoff in einer anderen Darreichungsform verbessert? Dann hat der Patient versagt. Das ist die einfache Rechnung, die das Gesundheitsministerium aufmacht.
Argument ist dabei vor allem das eingesparte Geld. Dabei existieren diese Einsparungen nicht einmal. Der scheinbare Eingriff in den frei flottierenden Universalmarkt findet nicht statt, sondern verschiebt allein dessen Grenzen. Da die Märkte außerhalb verloren gehen, müssen die inneren Märkte wieder entdeckt werden. Dies aber gelingt nur durch Teilung. Es entstehen nicht mehr zuordenbare Schichten. Die einen werden dazu verdammt, sich mit Generika abspeisen zu lassen, während sich die anderen aus der eigenen Tasche das teure Original leisten können. Es ist wie bei den Modeartikeln. Hier besitzen Original und Kopie aber wenigstens noch miteinander vergleichbare, das heißt äußerlich erkennbare Kriterien.
Man stelle sich vor, Eltern würden ihren Kindern eine abgetragene Windjacke vorhalten und behaupten, sie besäße denselben Wirkstoff wie das funkelnde Markenstück. Nichts anderes macht Ulla Schmidt. Der Patient soll nun wieder glauben. Und wie man früher an die Heilkraft der Könige glaubte, so glaubt man heute an die Verlautbarungen von Gesundheitsministerien. Denn was sich verändert hat, ist allein die Darreichungsform der Macht.
FRANK WITZEL
Frank Witzel ist Schriftsteller.Zuletzt erschien der Roman„Bluemoon Baby“ (Edition Nautilus).
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