Zweiter Hegemann-Roman: Das (Anti-)Gesellschaftspanorama
Nach „Axolotl Roadkill“ kommt jetzt Helene Hegemanns zweiter Roman, „Jage zwei Tiger“. Er ist ist ein großes, finsteres Lesevergnügen.
„They only want you, when you’re 17, when you’re 21, you’re no fun.“ Diese Zeile der US-Rapperin Azealia Banks taucht in Helene Hegemanns zweitem Roman nach zwei Dritteln auf, kurz nachdem sich die Autorin überraschend mitten im Romangeschehen zu Wort gemeldet hat wie eine gute, nur etwas aus dem Blick geratene Kumpeline der gerade nach Italien ausgewanderten Protagonistentruppe.
„Was hab ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich gemacht? Entweder argentinisches Rindfleisch gegessen, ferngesehen oder versucht, eine Pradatasche beim Flippern zu gewinnen […]. Aber es geht hier nicht um mich, es geht um Minderjährige in Extremsituationen.“
Dieser kleine Einschub ist, um es mit der Autorin zu sagen, ein „guter Move“. Helene Hegemann war 17 und hatte bereits einen preisgekrönten Film („Torpedo“) gedreht, als sie mit ihren Debütroman „Axolotl Roadkill“ einen Bestseller schrieb und dafür Anerkennung und Aufmerksamkeit einfuhr – jedenfalls bis ihr eine (sehr überschaubare) Copy-Paste-Passage aus einem anderen Roman nachgewiesen wurde.
Die Demokratie hat ein Nachwuchsproblem. Heißt es. Dabei gibt es sie: Junge Menschen, die in eine Partei eintreten. Die sonntaz hat sechs von ihnen begleitet – bis zu ihrem ersten Wahlkampf. Die Titelgeschichte „Wer macht denn sowas?“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 24./25. August 2013. Darin außerdem: Ein Gespräch mit der Ethnologin Yasmine Musharbash über Monster, und ein Porträt über Wolfgang Neskovic, der einst aus der Linksfraktion ausbrach. Außerdem der sonntaz-Streit zur Frage: Braucht Deutschland Coffeeshops? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Wenn sie jetzt mit 21 ihr zweites Buch vorlegt – die Releaseparty wird natürlich standesgemäß in der hippen Kreuzberger Kunst-Location St. Agnes gefeiert –, dürften die kritischen Maßstäbe (noch) strenger geworden sein. Zum einen wegen des Plagiatsvorwurfs, auf den sich Helene Hegemann mit einem winzigen, dafür betont akribischen Literaturverzeichnis bezieht. Aber auch der speziell „authentische“ Reiz, der dem Debüt zugrunde lag, steht auf dem Spiel. Dessen Heldin Mifti, die nach dem Tod ihrer Mutter mit 13 Jahren zu ihrem „kulturschaffenden“ Vater nach Berlin zog, wies einfach zu viele biografische Ähnlichkeiten mit Hegemann auf, um nicht als ihr literarisches Alter Ego betrachtet zu werden.
Hegemann will als Künstlerin betrachtet werden
Mit der eingangs zitierten Passage stellt Hegemann beiläufig und entschieden klar, dass sie sich ihrer Rolle als Literaturstar sowie sämtlicher Erwartungen, die an sie gestellt werden, bewusst ist. Und dass sie sich nicht (mehr) mit ihren minderjährigen HeldInnen identifiziert, sondern als Künstlerin betrachtet werden möchte.
„Jage zwei Tiger“ (statt zweier Hasen) heißt entsprechend kämpferisch der von der slowenischen Künstlergruppe Laibach geborgte Titel. Ein Imperativ, den Hegemann locker toppt, denn es sind drei ProtagonistInnen, deren Geschichten sich im Roman tragisch-elegant kreuzen und zu surrealen Happy Ends verknoten. Da ist Kai, der mit 11 Jahren bei einem Autounfall seine Mutter verliert, Samantha, die 14-jährige Zirkusprinzessin, der ein Unterarm fehlt, und Cecile, von Hegemann lässig mit einer Parenthese eingeführt: „(siebzehn Jahre alt, schweißtreibende Gewaltfantasien, neue Protagonistin)“.
Kai begegnet Samantha auf der Flucht von der Unfallstelle, als er „realisierte, wie stillos und inadäquat es sein würde, morgen beim Kinderpsychologen das Verhältnis zu seinem Vater mit dem spontan gewählten Abstand zwischen zwei Bauklötzen zu visualisieren“. Durch die Katastrophe schlagartig gereift, verliebt er sich in sie, nicht ahnend, dass Samantha zu den vier Jugendlichen gehörte, die gerade mit einem Steinwurf von der Autobahnbrücke den Tod seiner Mutter verursacht haben.
Über seinen Vater, den Galeristen und Schwerenöter Detlev, trifft er später auf Cecile, eine wohlstandsverwahrloste Internatsschülerin, die von Ritzen und Magersucht über Sex mit deutlich älteren Männern und Frauen bis zum Drogendealen keine Form der Rebellion auslässt.
Es lohnt sich, die Beschreibung ihres schwerreichen Elternhauses in voller Schönheit zu zitieren: Es „war eingerichtet nach den plausibelsten Standards einer mit Raffinesse gekoppelten großbürgerlichen Schlichtheit, also keine prollige Grandezza, keine Angeberei, nur subtile, gut angeordnete Elemente verschiedener Epochen, die aufs Genaueste den hohen Grad an Wissen, Stilbewusstsein und Interesse am Nicht-Materiellen widerzuspiegeln hatten, den die Besitzer trotz ihres selbst erarbeiteten Reichtums aufrechtzuerhalten wussten … es war perfekt, es arbeitete sich ’sympathisch‘ und ’bescheiden‘ an allen existenten Codes zeitgenössischer Inneneinrichtungsmagazine ab, es war tot.“
Phrasen und Schlaumeiereien des Kulturbetriebs
Zack – so klingt er, der alles durchleuchtende und sezierende Hegemann-Sound, der sich problemlos jeden Jargon aneignen und ihn zugleich, ein winziger Nachsatz genügt, zur Kenntlichkeit verzerren kann. Es sind die Phrasen und Schlaumeiereien des Kulturbetriebs und der Geschmacksindustrie selbst, die einem hier um die Ohren fliegen.
Hegemann projiziert ihren alles Eitle, Verlogene und Etablierte witternden und vernichten wollenden Blick auf die drei Jugendlichen, und so verschieden Samantha, Cecile und Kai durch Geschlecht, Herkunft und Biografie auch scheinen, sie bleiben alle WiedergängerInnen der kleinen Mifti aus „Axolotl Roadkill“. Egal ob ihnen ein Eltern- oder Körperteil abhanden gekommen ist oder ihre Mütter und Väter nur restlos mit sich selbst beschäftigt sind (und sie ihnen das bewundernswert großmütig verzeihen): Diese umfassend verwaisten Kinder leiten aus ihren Verlusten und Leerstellen eine maximale und maximal artifizielle Lebensgier ab – bei gleichzeitiger Radikalverachtung all dessen, was als gesund und normal gilt.
„Er interessierte sich für ausnahmslos alles“, heißt es über Kai. „Weil er realisierte, dass er keine zweite Katastrophe überleben würde.“ Samantha denkt, „wenigstens sinngemäß: Wow, was wollen die alle mit detaillierten literarischen Schilderungen von sich durch Butterbrotpapier nässendem Frischkäse, mich interessieren Weltkriege, verdammte Scheiße.“ Und auf einem Madonna-Konzert realisiert Cecile: „Es ging […] um die Auflösung von Grenzen. Zwischen Geschlechtern, zwischen Arm und Reich und Alt und Jung und Gut und Böse.“
So schildert Hegemann nicht nur mit diabolischem Witz die Seitensprungreisen und Wohlstandspartys, auf die die Sammler- und Galeristeneltern ihre Kinder mitschleifen. Sie lässt ihre Schützlinge auch den Gegenentwurf einlösen: in ihren oft von Zartheit gekennzeichneten Freundschaften, in ihrer Offenheit gegenüber Abweichungen von der Norm, in unkonventionellen Leidenschaften, die etwa Cecile zu Kais Vater oder einer älteren Frau empfindet. Vor allem aber in der eher dreckigen als romantisch verklärten Wormser WG aus Kiffern, Dealern und Behinderten, der sich Cecile vorübergehend anschließt, scheint im zweiten Teil des Romans ein bizarres Utopia auf.
Der Roman birst vor Ereignissen
Obwohl „Jage zwei Tiger“ stilistisch deutlich geschliffener und souveräner ist als sein Vorgänger, ist es wieder ein wildes, alle Maßstäbe von Konsistenz und Ausgewogenheit mit voller Absicht sprengendes Buch geworden. Hat Hegemann gerade noch raffiniert mit Vor- oder Rückblenden gespielt, verliert sie sich kurz darauf in Lebensläufen einer Nebenfigur oder der detaillierten Wiedergabe eines Pseudofachgesprächs unter Kunstfuzzis.
Der Roman birst vor Ereignissen, und doch wirkt er eher wie eine ruhelose Zustandsbeschreibung oder ein Haltungsmanifest, in dem es fast leichter fällt, sich mit den unablässigen Distanzierungsbewegungen der Autorin zu identifizieren als mit einer der ProtagonistInnen. Diese sind schließlich keine psychologischen Charaktere, sondern Auserwählte, die Veränderung nicht als Entwicklung, sondern als schockartige Erleuchtung erfahren. Auf Um- und Irrwegen lotsen sie den Leser durch Helene Hegemanns eigentliches Projekt: ein umfassendes (Anti-)Gesellschaftspanorama, das vom Wanderzirkus bis zur High Society reicht.
Helene Hegemann: „Jage zwei Tiger“. Hanser Berlin, Berlin 2013, 320 Seiten, 19,90 Euro.
Und das ist ein großes, bewegendes, oftmals finsteres Lesevergnügen. „Wenn Du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll“, heißt es im vorangestellten Laibach-Zitat, aus dem auch der Titel stammt. Im Gegensatz zum Scheitern ist Helene Hegemann der Glanz gewiss.
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