Buch von Helene Hegemann: Endlich sicher sein

Was, wenn ein Kind sich vor dem Menschen schützen muss, der es beschützen sollte? Davon handelt Hegemanns Sozialdrama „Bungalow“.

Eine Frau mit langen Haaren sitzt auf einem Sofa und guckt in die Kamera

Lässt auch Herzzerreißendes in „Bungalow“ nicht aus: Helene Hegemann Foto: imago/Mike Schmidt

Helene Hegemann hat mit „Bungalow“ ein sehr gutes Sozialdrama geschrieben, eine unausgegorene Coming-of-Age-Liebesgeschichte und eine irritierende Dystopie. Je geringer das Maß an angestrengter Abgeklärtheit, desto besser ist das Buch. Die kühlen Transgressionen sind öde; krass ist der neue Roman der 26-Jährigen, wenn er in seiner Ehrlichkeit schonungslos ist, nicht in seinen provokanten Posen.

Gleich im zweiten Absatz kommt der erste betont gelangweilte Orgasmus, und da möchte man das Buch schon wieder aus der Hand legen, aber das erlaubt die Rezensentenpflicht natürlich nicht, und das ist auch gut so, denn es folgt, hat man den ziemlich desorientierenden Einstieg erst einmal überstanden, ein sehr gutes Sozialdrama, unter anderem, wie gesagt.

Dieses sehr gute Sozialdrama handelt von der Einsamkeit eines Mädchens, das mit seiner psychisch kranken Mutter zusammenlebt, von dem unmöglichen Gefühl der Ausweglosigkeit, das ein Kind aushalten muss, wenn es sich irgendwie vor dem Menschen schützen muss, der es eigentlich beschützen sollte.

Charlie, die zwölfjährige Protagonistin und retro­spek­tivische Ich-Erzählerin, liebt und verachtet und fürchtet und bemitleidet ihre suchtkranke, schizophrene Mutter, mit der sie in einer kleinen Sozialbauwohnung gefangen ist. Sie blickt auf die Welt herab, damit niemand merkt, wie klein sie sich fühlt; sie lehnt jeden ab, weil sie auf jeden neidisch ist. Hegemann nimmt dieses Szenario sehr ernst und zeichnet das Bild einer Verwahrlosung mit der angemessenen Komplexität und einer Zartheit, die man von ihr vielleicht nicht erwartet hätte.

Kekse spielen eine entscheidende Rolle

In einer geradezu herzzerreißenden Szene lässt sie den Wunsch des Mädchens nach ­einer gesunden Mutter und einer normalen Familie und ihre aus deren Krankheit erwachsenen Minderwertigkeits-komplexe offenbar werden. Die Szene, die man aufgrund ihrer Bereitschaft zur Gefühligkeit eher in einem Film von Steven Spielberg als in einem Roman von Helene Hegemann erwarten würde, soll hier nicht vorweggenommen werden, nur so viel: Lidl-Kekse spielen eine entscheidende Rolle, und die Stelle ist wirklich sehr traurig und schön.

Von ihrem Balkon aus blickt Charlie auf eine Bungalowsiedlung, deren Bewohner das Versprechen einer besseren Welt verkörpern. Besonders ein attraktives Schauspielerpaar beobachtet sie von dort aus, während ihre Mutter in der Küche verdorbenes Fleisch verschlingt oder sich einnässt und am nächsten Tag so tut, als wäre nichts passiert. Die Schauspieler gefallen der jungen Charlie also, oder, wie sie es selbst schreibt: „Ich wollte die ficken.“ Hier weiß Hegemann mit der Geschichte nicht so richtig etwas anzufangen.

Helene Hegemann: „Bungalow“. Hanser.Berlin, Berlin 2018, 288 Seiten, 23 Euro

Frühere Coming-of-Age-Passagen des Buches, zum Beispiel das Pornogucken mit dem Klassenkameraden, sind launige Divertimenti; die Dynamik mit dem Paar gegenüber aber läuft ins Leere, und um das Ganze irgendwie zu retten, so hat man den Eindruck, dreht Hegemann gegen Ende eben den Dystopie-Regler auf Anschlag.

Wenn die Situation mit der Mutter schon aussichtslos ist und auch die Erzählung mit dem Paar ins Nichts führt, lässt sich auf den letzten Metern, war wohl der Gedanke, mit zünftiger Weltuntergangs-Symptomatik eine narrative Form simulieren. Die apokalyptischen Anklänge, die den Roman mit einem Grundbrummen begleiten, um später zu dominieren, sind vielleicht als metaphorische Spiegelungen des Kernkonflikts zwischen Charlie und ihrer Mutter lesbar, sie bleiben jedoch unbefriedigende Andeutungen und unheilvolles Rauschen.

Die nihilistische Haltung durchbrochen

Es ist erstaunlich, wie in Hegemanns Schreiben auf kluge Aphorismen und originelle Metaphern plötzlich Plattheiten und Kalauer folgen, nicht selten innerhalb eines Satzes, als hätte sie das Buch in manischem Furor runtergeschrieben, um es aus dem Kopf zu kriegen. Charlies schnoddriger Tonfall besticht durch Tempo und durchgängige Unterhaltsamkeit, ist in Sachen Treffsicherheit aber eben nicht gerade konsistent.

Sie blickt auf die Welt herab, damit niemand merkt, wie klein sie sich fühlt

Durchbricht Hegemann die nihilistische Haltung ihrer Hauptfigur und offenbart sie die Verletzlichkeit, die diesem Habitus zugrunde liegt, läuft sie als Autorin zur Höchstform auf. Die ständige Angst, in der Charlie lebt, macht Helene Hegemann dann in einem genau beobachteten, klaustrophobischen Kammerspiel auf beeindruckende Weise erfahrbar.

Kaum zu ertragen ist die sture Hoffnung des Mädchens, doch zu ihrer Mutter durchzudringen, gesehen zu werden, sich endlich sicher zu fühlen.

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