piwik no script img

Zwei Jahre Tempi-ZugunglückDie Wut auf Mitsotakis wächst

Die griechische Regierung unter Premier Mitsotakis übersteht abermals ein Misstrauensvotum. Ob sie jedoch zu Ende regieren kann, ist fraglich.

„Es war kein menschliches Versagen“ heißt es auf den Bannern der Massenproteste, hier vor dem Parlament in Athen Foto: Yorgos Karahalis/AP/dpa

Athen taz | Griechenland ist in Aufruhr. Eine satte Mehrheit der Befragten spricht sich für vorgezogene Neuwahlen in Griechenland aus – und dies erst gut anderthalb Jahre nach dem jüngsten Urnengang. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts MRB zufolge sind 57,5 Prozent der Griechen dafür, ebenso selbst 22 Prozent der Wähler der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia (ND).

Doch Hellas’ konservative Regierung unter Premier Kyriakos Mitsotakis sieht das anders: Mitsotakis will bis zu den turnusmäßig im Sommer 2027 stattfindenden Parlamentswahlen weiterregieren. Ein Misstrauensantrag gegen ihn scheiterte am Freitagabend. Die 156 ND-Abgeordneten im 300 Sitze umfassenden Athener Parlament stimmten geschlossen dagegen.

Eingebracht hatten den Antrag die sozialdemokratische Pasok, das Bündnis der radikalen Linken (Syriza) sowie die Syriza-Abspaltungen Neue Linke und Kurs der Freiheit.

Bereits im März 2024 hatte das Parteienquartett einen Misstrauensantrag gegen Mitsotakis und Co eingereicht. Auch er scheiterte. Damals wie heute galt der gleiche Anlass: der Frontalcrash des IC 62 mit einem Güterzug im Tempital am 28. Februar 2023. 57 meist junge Menschen wurden getötet.

Größte Kundgebungen seit dem Ende der Militärdiktatur

Am 28. Februar zwei Jahre danach fanden in Griechenland und weltweit die größten Kundgebungen seit dem Ende der griechischen Militärdiktatur 1974 statt. Rund zwei Millionen Menschen forderten die Aufklärung des Zugunglücks sowie die Verurteilung aller Verantwortlichen. Die Regierung Mitsotakis wolle in der Sache von Beginn an vertuschen und verschleiern, so ihr Vorwurf. Die Strafjustiz werde von ihr kontrolliert, regierungsfreundliche Medien betrieben pure Propaganda.

Mitsotakis bestreitet die Vorwürfe. Am Mittwoch sah sich jedoch der Vizeminister für Bürgerschutz, der enge Mitsotakis-Vertraute Christos Triantopoulos, dazu gezwungen, zurückzutreten. Er muss sich vor einem Vorermittlungsausschuss im Athener Parlament verantworten. Dabei wird es auch um das mutmaßliche Verwischen der Spuren am Unfallort unmittelbar nach dem Frontalcrash gehen: Waggons der beiden Züge wurden entfernt, das Gelände wurde geräumt, die Erde ausgehoben und der Unfallort zubetoniert.

Durch ein Misstrauensvotum wurde eine Regierung in Athen noch nie gestürzt, durch den Druck der Gesellschaft jedoch schon. Gefährlicher für den Fortbestand der Regierung Mitsotakis ist daher der mittlerweile breite und heftige Protest. Angesichts neuer Erkenntnisse im Fall des Crashs hat er an Fahrt gewonnen. Zutage gebracht wurden diese von Experten, die von den Angehörigen der Opfer beauftragt worden waren.

Sie haben hochexplosive Chemikalien am Unfallort gefunden, die offenbar illegal im Güterzug transportiert worden waren. Der Verdacht: Schmuggel im großen Stil, den die Regierung offenbar nicht bekämpfe. Dies könnte eine Erklärung für den Tod jener Passagiere sein, die nicht direkt durch den ­Frontalzusammenstoß starben, sondern danach durch Explo­sionen bei Temperaturen von bis zu 1.400 Grad pulverisiert wurden.

Sorgen um den Rechtsstaat

Entgegen der gebetsmühlen­artig von Mitsotakis vorgebrachten Erzählung, wonach es sich lediglich um ein „Unglück“ handele, bezeichnen laut der MRB-Umfrage fulminante 72 Prozent der Befragten den Fall als ein Verbrechen. 75 Prozent sind überzeugt von einer Vertuschung.

Die Griechen sorgen sich um ihren Rechtsstaat, der in ihren Augen noch nie in einer so desolaten Verfassung war. Die Umfragewerte für Mitsotakis’ ND befinden sich im freien Fall. Sie haben sich im Vergleich zu ihrem jüngsten Wahlergebnis nahezu halbiert.

Während Mitsotakis sich am Mittwoch vor dem Parlament verteidigte und eine Vertuschung bestritt, fanden vor dem Gebäude erneut Massenproteste statt. Auf einem Transparent stand zu lesen: „Ihr habt 57 Oscars der Vertuschung verdient“ – für jeden Menschen, der bei der Katastrophe ums Leben gekommen ist, einen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • "Zubetoniert" würde da schonmal gar nichts. Bitte sauber recherchieren. Es wurde das Gelände planiert, damit die Kräne sicheren Stand haben, die den einen Waggon hochheben sollten, der auf einem anderen lag. Die Lesart der Regierung, man stelle sich vor, das wäre nicht geschehen und dort wären noch Schwerverletzte gewesen, ist so abwegig ja wohl nicht. Auch gibt es noch keinen schlüssigen Beweis für einen Explosivstoff, nur Indizien. Ein illegaler Behälter auf dem Güterzug konnte bislang nicht nachgewiesen werden, etwa auf Aufnahmen von Überwachungskameras. Für den desolaten Zustand der griechischen Eisenbahn ist die vormals regierende Linke mitverantwortlich. Was sich die Regierung tatsächlich hat zuschulden kommen lassen ist Untätigkeit im Vorfeld und schlampige Ermittlungen danach. Da kurz nach dem Unfall Wahlen anstanden, hat man versucht, das Thema unter den Teppich zu kehren, und weil diese Wahlen sehr deutlich gewonnen wurden, dachten die, die Sache sei gelaufen. Das andere ist in großem Maße Oppositionsgedröhne unter Ausnutzung einer durch Teuerung und Stillstand befeuerten allgemeinen Unzufriedenheit. Das Problem: Selbst wenn es Wahlen gibt, fehlt die Alternative.