piwik no script img

■ Zur Interventionsbegründung bei Menschenrechtsverletzungen wie im Kosovo reichen moralische Gesichtspunkte nicht ausVon der Bestialität zur Humanität?

Jürgen Habermas hat gesprochen, in der Zeit vom 30. April, und (fast) alle, Gegner wie Befürworter der Nato-Strategie gegen Jugoslawien, freuen sich, weil ihre Argumente wohlsortiert, abgewogen und in einer allgemein akzeptierbaren Perspektive aufgehoben sind: der einer rechtlich durchwirkten Völkergemeinschaft, in der Menschenrechte kraft Übereinkommens den Vorrang vor der Souveränität der Staaten haben.

Wer allerdings Habermas' Aufsatz in der Hoffnung liest, daraus halbwegs überzeugende Anweisungen zum Handeln destillieren zu können, wer sich beispielsweise angesichts des nahen Grünen-Parteitags mit der Frage herumschlägt, ob er nun für oder gegen (zeitlich unbegrenzte?) Luftangriffe der Nato auf Serbien Partei ergreifen soll, muß sich mit einem Stückchen harter Brotrinde begnügen.

Die Stärke von Habermas' Argumentation für die Institutionalisierung eines Weltbürgerrechts macht auch ihre zentrale Schwäche aus: Sie bleibt im sicheren Gewässer des Abstrakt-Normativen. Sie konfrontiert sich nicht mit der vertrackten Realität, sie stellt nicht einmal Spielregeln auf, wie konkret, das heißt, wie im Fall der Hilfe für die schutzlosen Kosovo-Albaner eine vernünftige Lösung erreicht werden kann. Damit unterschreitet der Philosoph der kommunikativen Vernunft entschieden die Anforderungen, die sein eigenes Werk an ihn stellen.

Völlig zu Recht konstatiert Habermas, daß das Problem des humanitären Völkerrechts in seiner „Unterinstitutionalisierung“ liegt. Denn im Fall schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen, wie jetzt im Kosovo, reicht es nicht, daß die intervenierenden Mächte moralische Gesichtspunkte geltend machen. Vielmehr muß sich ihre Aktion auf Rechtspositionen stützen, die der angegriffene Staat, hier Restjugoslawien, für sich selbst prinzipiell als bindend erklärt hat: eine Resolution des UNO-Sicherheitsrates nach Kapitel VII beispielsweise, die im Fall der Gefährdung des Weltfriedens Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Staaten vorsieht.

Habermas zeichnet nach, wie dieser Gefährdungstatbestand durch UN-Sicherheitsresolutionen zu Beginn der 90er auf die Fälle von Bürgerkrieg, systematischem Terror und auf das schiere Verschwinden der Staatsgewalt (im Fall Somalias und Kambodschas) ausgedehnt worden ist. Nur leider ist diese humanitäre Rechtsentwicklung im Fall des Kosovo wegen des Vetos von Rußland und China nicht praktizierbar.

Hiervon ausgehend, fordert Habermas nicht weniger als die Reform der UNO: eine Änderung des Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat, die Einrichtung des (beschlossenen, aber von den USA nicht akzeptierten) Internationalen Strafgerichtshofs und ein Weltparlament, das der Staaten-Generalversammlung zur Seite gestellt werden soll. Diese und viele andere schöne Dinge liegen tonnenweise als Reformvorschläge beim UNO-Generalsekretariat begraben. Wie auch weitergehende Vorstellungen, UNO-Gremien größere Vollmachten in Fragen der Weltökonomie einzuräumen, den IWF und die Weltbank wieder einer stärkeren UNO-Kontrolle zu unterstellen, alles Ideen, die für die Haltung der armen Staaten zur UNO allgemein und zum humanitären Völkerrecht im besonderen ausschlaggebend sind. Vom Zusammenhang dieser beiden Reformkomplexe findet sich bei Jürgen Habermas keine Andeutung.

Habermas sieht die Luftangriffe der Nato als Nothilfe und quasi als Vorgriff auf einen veränderten, positiven Weltzustand. Er mahnt deshalb die Nato, die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Zwangsmittel zu beachten und die Intervention gegen Restjugoslawien nicht als Modellfall zu nehmen. Beide Mahnungen sind fruchtlos. Ist die Verhältnismäßigkeit des Zwangs, die Habermas als Abwendung von der Praxis des totalen Kriegs rühmt, auch noch nach drei Monaten Bombardements zu wahren? Liegt nicht die Vermutung nahe, daß die Eskalation den Luftangriffen von vornherein eingeschrieben war? Und haben die Führungsgremien der Nato sich nicht bereits darauf verständigt, ihre Strategie jenseits des ursprünglichen Verteidigungsauftrags zu reformulieren?

Statt über das künftige Weltbürgerrecht zu räsonieren, wäre es weit angebrachter, Vorschläge zu machen, wie aus der Sackgasse der Luftangriffe herausgefunden und gleichzeitig den Kosovo-Albanern effektiv geholfen werden kann. Letzteres geht bekanntlich nur in Form eines bewaffneten Protektorats über das Kosovo. Wie, das heißt aufgrund welcher Konzessionen, kann erreicht werden, daß Rußland dem Protektorat zustimmt und die Chinesen während der Abstimmung im Sicherheitsrat die Toilette aufsuchen? Hier taucht ein häßliches Wörtchen auf, ein Umstand, den Habermas lieber der vergangenen Epoche der Staatenbeziehungen zuordnen möchte: das Wörtchen Interessen. Gefragt ist Interessenpolitik mit der humanen Absicht im Hinterkopf – Staatskunst eben.

Wenn nicht Staatskunst, dann wenigstens Dialog, der den gefrorenen Boden aufreißt. Jürgen Habermas hatte zu Zeiten des niedergehenden Tito-Regimes die Bewunderung vieler serbischer Intellektueller, die damals die demokratische Reform Jugoslawiens betrieben. Viele, aber nicht alle dieser damaligen Heroen sind heute auf die Positionen des kranken, großserbischen Nationalismus übergegangen. Böte es sich nicht an, die Debatte mit den vormaligen Freunden wieder aufzunehmen, ihre Argumente zu prüfen, sie unter intellektuellen und moralischen Zugzwang zu setzen? Wäre nicht hier ein „Ort des Diskurses“, des kommunikativen Handelns? Eine solche Vorgehensweise könnte nur verwerfen, wer die Gesellschaft in Serbien umstandslos mit der im Nazi-Deutschland gleichsetzt. Aber ein Blick ins Internet und auf die jüngste Stellungnahme der Friedensaktivisten um Sonja Licht beweist, daß diese Annahme nicht zutrifft. Erstaunlich, daß bei einem in gesellschaftlichen Kategorien heimischen Philosophen wie Habermas eine solche Aufgabe nicht als dringlich empfunden wird.

Der Aufsatz von Jürgen Habermas ist „Bestialität und Humanität“ übertitelt. Damit wird in kritischer Absicht auf das Diktum „Humanität, Bestialität!“ angespielt, vermittels dessen der faschistische Staatsrechtler Karl Schmitt vor der „Moralisierung“ des Völkerrechts und der mit ihr angeblich einhergehenden ausweglosen Konfrontation Gut gegen Böse gewarnt hatte. Schmitt hatte sich seinerseits von einem Ausspruch des altösterreichischen Dichters Franz Grillparzer abgesetzt, der da lautete: „Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.“ Bei der Bestialität sind wir angelangt. Jetzt geht es um Orientierungshilfen beim Weg zurück. Christian Semler

Vorschläge wären angebrachter als Räsonieren über das Weltbürgerrecht.

Wie die Luftangriffe beenden? Wie gleichzeitig den Kosovaren helfen?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen