Zum Tod von Charles Aznavour: Relevant bis zuletzt
94 Jahre wurde er alt, jüngst war er noch auf Tournee: Charles Aznavour, großer Chansonnier und Antirassist, ist in Mouriès gestorben.
Anfang Januar gastierte er noch in Bordeaux, als zweiter Act nach Depeche Mode. Ausverkauft war die Halle im alten Industriegebiet an der Gironde, der Mann war noch längst kein Unbekannter in seiner Heimat: Charles Aznavour. All seine bekannten Lieder sang er, „La bohème“, „Que c’est triste Venise“ und „She“, ja auch „For me formidable“ und „Les comédiens“. Schön begleitet von einem Orchester, alles klang wie früher, nichts wurde tonal aus mulschig stimmenden Computern gezerrt.
Das war schon wunderlich, ja, nostalgisch anmutend genug; das eigentliche Wunder war, dass da ein 93-jähriger Mann auf der Bühne steht, tatsächlich nicht auf einem Barhocker sitzt und singt, sondern: tänzelt, taktsicher, geschmeidig und immer ahnen lassend, wie stark die Verführungskraft dieses ja körperlich eher kleinen Mannes gewesen sein muss. Damals, als die klassische Chansonwelt schon starb und die Teenagermusik langsam auch in Frankreich das traditionelle Lied mit schönen Texten und gefälligen Melodien ablöste.
Man konnte auch lesen, dass Bordeaux ja eigentlich keine Ausnahme vom Leben des Monsieur Aznavour war, kein Gastspiel. Nein, der gebürtige Pariser, der aus einer armenischen Künstlerfamilie stammt, hatte noch eine Welttournee auf dem Zettel, Tokio inklusive. Man musste sich diesen Mann wie einen Unruheständler vorstellen, jedenfalls nicht wie einen Künstler, der irgendwann demodé ist und nur noch von alten Hits zehrt. Aznavour, das bezeugten auch die vielen Jungen und Jüngeren in seinem Konzert, war eine Figur des öffentlichen Bewusstseins von noch sehr heutiger Qualität.
Textlich bewegte sich so gut wie alles um die menschlichen Themen, die nicht politisch zu lesen sein müssen: immer wieder – die Liebe. Er lässt sie gehen, sie lässt ihn gehen, die Traurigkeit ob vergehender Gefühle, die Melancholie, die einen Bohémien befällt, sieht er sich die scheinanständigen Bürger und Bürgerinnen an, wenn sie ihren Alltagen nachgehen. Er konnte auch klarsprechend werden, wenn er in einem Lied seine Ehefrau anklagt, sie lasse sich gehen – und ob er das als Zeichen lesen müsse, so heißt es, dass sie das Interesse an ihm verloren habe.
Spezialität: abgedimmte Traurigkeit
Nicht dass Aznavour auch von kleinen körperlichen Ekstasen der Liebe nicht zu singen wusste, aber seine Spezialität war die abgedimmte Traurigkeit, mehr noch, das Ahnen, dass es nicht allein Wehmut ist, die peinigen wird. Seine Stimme, mit der er anfänglich nicht reüssieren konnte, die etwa Edith Piaf, die Herrscherin des französischen Chansons, grässlich fand, erwies sich dann doch als das Gold, das alle Sängerinnen und Sänger haben, die es zu etwas bringen wollen: Unverwechselbarkeit. Heiser, rau und nicht eben gefällig schön und gülden.
Zu einer Zeit, als selbst schwule Sänger im Entertainment alles, auch im eigenen Repertoire, vermieden, was als schwul gelten konnte, sang Aznavour „Wie sie sagen“, auf Französisch: „Comme ils disent“ – als Nonkonformist, wie er sich verstand, hatte er keine Scheu unsagbaren Themen gegenüber.
Aznavour hat künstlerisch viel mehr geleistet als viele, sehr viele Lieder einzusingen und sein Publikum zu bannen, sich von ihm verehren zu lassen. Als Filmschauspieler sah er sich hauptsächlich, spielte 1970 in Volker Schlöndorffs „Blechtrommel“, 1981 im „Zauberberg“, 1960 schon in François Truffauts „Schießen Sie auf den Pianisten“ – Aznavour brachte es gar 1977 zu einem Auftritt in der Muppet-Show: Sollte ihm bloß keiner nachsagen, dass er die kuriosen Performances, jenseits hochkultureller Beliebtheit, meiden würde. 2008 dreht er seinen letzten Film, „The Colonel“.
Was ihn reizte, war Eleganz, Dezenz und Anmut: Aznavour hielt viel auf Mode, ein Markenzeichen, mit dem er in der Bundesrepublik in den frühen 70er Jahren durch seine Produktionsfirma gepriesen wurde – ein eleganter Mann in teils, aus heutiger Sicht, abstrusen Textilien: Dass ihn viele Frauen genau deshalb anbeteten, ja, ihn als Mann begehrten, gefiel ihm umso besser.
Eltern postum in Israel geehrt
Politisch war er auf gewisse Weise durch seine Geburt sensibilisiert: Paris war der Exilort seiner Eltern – vor dem Völkermord an den Armeniern, verübt 1915 durch die türkischen Nationalisten. Aznavour war glühender Franzose, was auch sonst, es war ja sein Geburtsland. Seine Eltern, Misha und Knar Aznavourian, wurden voriges Jahr postum in Israel geehrt, weil sie während der Schoa in ihrer Pariser Wohnung Juden und Jüdinnen vor der Gestapo versteckten. Er sagte in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen: „Ich bin sehr stolz darüber, dass meine Eltern nun gewürdigt wurden; und es ist wichtig, den Israelis zu zeigen, dass nicht die ganze Welt damals antisemitisch war. Und ich folge hier den Israelis. Bei diesem Besuch wollten mich auch Palästinenser treffen. Es wäre großartig, wenn ein Außenseiter, der weder jüdisch noch palästinensisch ist, beiden Seiten zum Dialog verhelfen könnte.“
Mit Sorge betrachtete er die jüngsten innenpolitischen Unruhen in Frankreich, die Verfolgung von jüdischen Bürger*innen, ihre Gefühle von Unsicherheit, die Ahnung, womöglich durch den Staat nicht hinlänglich geschützt zu sein vor islamistischen Attentäter*innen. Öfter sagte er, dass doch gerade Frankreich das Ideal leben müsse, auf seine Minderheiten besonders aufzupassen – und sie nicht so leben zu lassen, dass sie keine feste Erde unter den Füßen spüren.
Charles Aznavour, der ein Liberaler war, ein Republikaner, ein Antirassist, ein Liebender und ein Verzweifelter, ein Mann, der als Sänger und auf der Bühne alle Bescheidenheit ablegte und aus sich herausging – und privat doch als uneitel und zurückgenommen geschildert wird, ist am Montag in Mouriès im Alter von 94 Jahren gestorben.
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