Zum Tod von Alexander Solschenizyn: Visionär des Vergangenen
Mit seinem Roman "Archipel Gulag" setzte er den Opfern des Stalinismus ein Denkmal. Nun starb der Literaturnobelpreisträger im Alter von 89 Jahren in Moskau.
MOSKAU taz "Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen, ich habe Ihre Erzählung gelesen, noch einmal gelesen, mich zurückerinnert … Die Erzählung ist wie ein Gedicht, alles an ihr ist vollkommen. Erlauben sie mir, Ihnen, mir selbst und den tausenden Überlebenden zu gratulieren, und auch den hunderttausenden (wenn nicht Millionen) Gestorbenen, denn auch sie sind mit dieser wahrhaftig bewundernswerten Erzählung lebendig", schrieb Warlam Schalamow, ein Häftling und Gulag-Schriftsteller wie Solschenizyn, als dessen Lagererzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" 1962 in der Literaturzeitschrift Nowij Mir erschien. Es war der erste Text über den bolschewistischen Lagerterror, der in der Sowjetunion sechs Jahre nach dem XX. Parteitag, auf dem Chruschtschow den Stalinismus anprangerte, erscheinen konnte.
Die wichtigsten Bücher Alexander Solschenizyns:
"Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" (1962)
"Matrjonas Hof" (1963)
"Der erste Kreis der Hölle" (1968, erweiterte Fassung: "Im ersten Kreis", 1978)
"Krebsstation" (1968)
"Der Archipel Gulag" (3 Bände 1973-1976)
"Das Rote Rad. Erster Knoten. August vierzehn" (1971, erweitert 1987)
"Das Rote Rad. Zweiter Knoten. November sechzehn" (1986)
"Das Rote Rad. Dritter Knoten. März siebzehn" (2 Bände 1991)
"Russland im Absturz" (1998)
"Zweihundert Jahre gemeinsam" (2 Bände 2001, 2002)
Mit der Erzählung wurde Solschenizyn zum Mahnmal und Inbegriff des sowjetischen Dissidenten. Er blieb aber ein Einzelkämpfer, der sich um die Solidarität der Moskauer Dissidentenszene nicht kümmerte. Auch in seinen späteren Memoiren würdigte er die Regimegegner, die zu ihm hielten, keines Wortes. Dank hatten sie von ihm nicht zu erwarten.
Das mag die Tragik der Figur Alexander Solschenizyns sein, der sich schon zu Lebzeiten zu einem Titanen stilisierte, der niemanden neben sich gelten ließ. Die moralische Integrität, die er sich als Schriftsteller erworben hatte, nutzte Solschenizyn nicht, um den tiefer liegenden Ursachen des politischen Terrors der Sowjetunion auf den Grund zu gehen. Auch nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil blieb Solschenizyn auf Distanz zur ehemaligen Dissidentenszene. Statt sich an der Aufarbeitung der totalitären russischen Vergangenheit zu beteiligen, wie es die Nichtregierungsorganisation Memorial unermüdlich versucht, zog sich Solschenizyn zurück. In seinen Werken erschien die bolschewistische Revolution als Betrug am russischen Volk. Dessen Tragödie sei Russland von außen aufgezwungen worden. Der Kommunismus war in seinen Augen eine Emanation des westlichen rationalistischen Humanismus, der seit der Aufklärung seinen verhängnisvollen Lauf nahm.
Als Solschenizyn 1994 nach zwanzig Jahren Exil in die Heimat zurückkehrte, sahen viele in ihm nicht nur einen Bezwinger des Kommunismus. Man erwartete von ihm geistige Führung wie sie Václav Havel in Tschechien leistete. Aber Solschenizyn war kein Havel und Russland nicht Tschechien.
Im Exil hatte sich Solschenizyn der Verherrlichung und einem Traumbild des zaristischen Russlands hingegeben. Der Westen und dessen Verrechtlichung der menschlichen Existenz waren ihm ein Gräuel, das er einem religionslosen Bewusstsein gleichsetzte. Seine politischen und publizistischen Arbeiten standen im krassen Widerspruch zu dem Zeitgeist in Russland, das in den Neunzigerjahren des Umbruchs auf der Suche nach sich selbst und etwas Neuem war. Aus dem Recht des moralisch Überlegenen machte er ein Recht auf Unbelehrbarkeit. Damit stellte er sich in die Tradition der russischen Intelligenz, deren Maximalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts keine Kompromisslösungen zulässt.
Der Bezwinger des Kommunismus konnte nicht verhehlen, dass auch er sich der Sowjetsozialisation nicht hatte entziehen können. Mehrfach unternahm er danach noch Versuche, sich publizistisch einzumischen. Solschenizyns Zukunftsentwürfe für seine Heimat bewegten sich unterdessen im reaktionären Gedankengut des 19. Jahrhunderts. Der Verrechtlichung und der Legitimation durch Verfahren im Westen stellt er ein organizistisches Weltbild gegenüber, das Anleihen bei den Ideologen der konservativen Revolution der Weimarer Republik gemacht haben könnte. Das überaus humane Menschenbild des Schriftstellers Solschenizyn gerann zu einem Traktat, das dem Menschen wieder das Subjektsein abspricht - im Interesse höherer Werte wie denen des Staates oder der orthodoxen Kirche. Ein verhängnisvolles Erbe, dem große Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski den Weg ebneten.
In einem Interview mit der Perestroika-Zeitung Moskowskije Nowosti meinte Solschenizyn 2003 zur westlichen Kritik an Russland: "Unbeschränkte Menschenrechte sind genau das, was unsere in Höhlen lebenden Vorfahren hatten: Nichts konnte sie davor bewahren, vom Nachbarn Fleisch zu stehlen oder ihn mit einem Knüppel niederzumachen."
Solschenizyn durchlebte die Hölle der Lager, 50 Jahre später erteilte er allgemein gültigen Menschenrechten eine Absage.
Im Rückgriff auf das Anderssein Russlands rechtfertigte Solschenizyn den Abbau der Demokratie unter Expräsident Wladimir Putin. Jede Gesellschaft brauche eine Autorität und eine Elite, die sich "volle Rechte" verschaffe, während die Rechte der Massen beschränkt würden.
Wie Premier Putin und viele Landsleute verwand auch Solschenizyn den Zerfall des Imperiums nicht. Ein unteilbares Großrussland, dem die Ukraine, Weißrussland und Nordkasachstan angehören, war für ihn genauso selbstverständlich wie die Existenz eines starken Staates. Solschenizyn blieb ein Visionär der Vergangenheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus